bwp@ Spezial 18 - Februar 2021

Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: (Un-)bekannte Wesen?

Hrsg.: Janika Grunau & Tobias Jenert

Erstis ohne Campus. Herausforderungen und Reflexionsanlässe im „Corona-Semester“ von Lehramtsstudierenden in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Beitrag von Viviane Schurig, Melanie Kneer, Natalie Gehle & Marc Casper
Schlüsselwörter: Studieneinstieg, Erstsemester, Lehramtsstudium, Reflexion, Corona

Mit einer Fragebogenerhebung zu persönlichen Verhältnissen, Studienzielen und Studienanforderungen wurden Erstsemesterstudierende des Lehramts an beruflichen Schulen an der Universität Hamburg zum Wintersemester 2020/21 befragt. Das Semester war gekennzeichnet von der kurzfristigen Umstellung aller Studienangebote auf digitale Formate, da aufgrund der vorherrschenden Corona-Pandemiebedingungen Präsenz ausgeschlossen wurde. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Studieneinstieg unter Pandemiebedingungen gekennzeichnet war von (a) hoher Rollen- und Anforderungsvielfalt durch die Verlagerung des Studiums in den privaten Bereich und damit verbunden erhöhten Anforderungen an die Selbstorganisation, von (b) geringer Identifikation mit der Universität und dem eigenen Studiengang und von (c) hoher Unsicherheit aufgrund fehlender Erfahrungswerte und gleichzeitig fehlender Feedbacks von Mitstudierenden. Diese besonderen Herausforderungen wurden in tiefen Reflexionsgesprächen mit einer kleinen Gruppe Studierender im Rahmen eines Wahlpflichtseminars exemplarisch bestätigt. Sie unterstreichen, dass in der Forschung zu Berufs- und Wirtschaftspädagogik-Studierenden bereits bekannte typische Herausforderungen durch die Pandemiebedingungen noch verstärkt werden. Diese Einsicht bietet Anlass zur Gestaltung reflexiver Begleitangebote für den Studieneinstieg, auch über Pandemiebedingungen hinaus.

1 Ein Studienbeginn mit „stay at home“ statt „get together”

Auf dem Feld der Hochschulforschung gehören Studienverläufe und insbesondere Studienabbrüche zu den systemrelevanten Themen. Seit einem Klassiker von Tinto (1975) werden dabei in der Regel die soziale Integration einerseits und die akademische Integration andererseits als besonders aussagekräftige Prädiktoren für Studienerfolg oder vorzeitigen Abbruch herausgestellt. Auch wenn sich mit der Differenzierung der Hochschulsysteme und der Studierendenschaft die Bedeutung dieser beiden Integrationsformen im Laufe der Zeit gewandelt hat, so herrscht weiterhin Einigkeit darüber, „that campus relationships matter to student persistence“ (Davidson/Wilson 2013, 329) – der Campus als sozialer Ort, als gemeinschaftliche Lebenswelt in einem besonderen Lebensabschnitt der Suche nach Handlungs- und Sinnressourcen (vgl. Rhein 2015), ist in seiner Bedeutung für erfolgreiches Studieren nicht zu unterschätzen. Manche akademische Durststrecke in einem anspruchsvollen Studium lässt sich nur meistern, wenn Studierende sich als Lerngemeinschaften solidarisieren (vgl. Bielaczyc/Collins 2012), von der in vielen Studiengängen explizit angestrebten Entwicklung der Sozialkompetenz ganz zu schweigen. Vehikel für derartige soziale Integration sind dabei traditionellerweise die Rüstzeiten wie An- und Abreise, die Minuten vor und nach Lehrveranstaltungen, Treppenhaus- und Fahrstuhlgespräche oder der freundschaftliche Austausch in Mensen, Bibliotheken, Fachschafträumen, campusnaher Gastronomie etc. pp.

Was aber bedeutet es für Studierende und ihre soziale Integration, wenn der Campus anders als erwartet verschlossen bleibt und zuvor als Präsenzstudium angelegte Studiengänge kurzerhand „digitalisiert“ werden – wie es im Jahr 2020 wegen der Corona-Pandemie an vielen Hochschulen der Fall war? Mit „kurzerhand“ soll hier keinesfalls der hohe Einsatz und die Kompetenz vieler Lehrender für digitale Lernformate abgewertet werden. Vielmehr soll deutlich werden, dass es sich bei den pandemiebedingten Umstellungen im Jahr 2020 größtenteils nicht um genuin als digital geplante Lernangebote handelte, sondern um kurzfristige Not- bzw. Ersatzlösungen im Sinne von „Emergency Remote Teaching“ (= ERT, Hodges et al. 2020), an die nicht die Ansprüche einer elaborierten e-Learning-Didaktik gestellt werden sollten. Wie finden dann insbesondere Erstsemesterstudierende einen Einstieg in die komplexe Welt der Universität, wenn ihnen der sonst selbstständig-beiläufig entstehende Peer-Support im Zeichen von organisatorischen und didaktischen Improvisationen, Social Distancing und “Stay-at-Home“-Politik erschwert wird? Kann eine ausreichende akademische Integration die mangelnde soziale Integration auffangen? Stellt sie sich für Lehramtsstudierende überhaupt als Problem dar, wenn doch gezeigt werden kann, dass diese auch im Normalfall tendenziell weniger sozial eingebunden und pragmatischer auf ihren (wunsch-)berufsqualifizierenden Abschluss ausgerichtet sind als andere Studierende (vgl. Bohndick 2020, speziell für BWP-Studierende auch Naeve-Stoß 2013 und Petzold-Rudolph 2017)? Diesen Fragen stellte sich das Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg (mit Unterstützung der Humboldt-Universität zu Berlin) mit Blick auf die besonderen und vielfältigen Lebens- und Lernumstände der Studienanfänger*innen im Lehramt an beruflichen Schulen. Mit einer Fragebogenerhebung (siehe Anhang) zum Wintersemester 2020/21 wurden persönliche Lebensumstände, subjektives Wohlbefinden (Lyubomirsky/Lepper 1999) Studienziele und Studienanforderungen (Bosse et al. 2019) erfragt. Außerdem wurde in Freitextfeldern das Erleben ihres ersten, im Zeichen von Corona auch dort völlig digitalen Semesters erfasst. Zusätzlich zu jenem an alle Erstsemester gerichteten Fragebogen wurde im Rahmen einer Wahlpflichtveranstaltung eine Reihe von Tiefenreflexionen nach dem Konzept von Korthagen durchgeführt (Korthagen/Nuijten 2018; Korthagen/Meyer 2002), um das studentische Erleben in einer kleinen Fallzahl qualitativer zu erkunden und unmittelbar Beratungsangebote und Selbstreflexionsimpulse zu erproben.

Da es sich um einen sehr kleinen und speziellen Datensatz handelt, hat dieser Beitrag keinerlei Verallgemeinerungsanspruch. Es geht vielmehr um eine frühe, im Modus des interessierten Suchens zu verstehende Exploration der besonderen Situation im Wintersemester 2020/21. Das Forschungsinteresse kann über die folgenden Leitfragen konkretisiert werden:

  • Was kennzeichnet die Studierenden der BWP in der aktuellen Studiensituation?
  • Welche Anforderungen und Zielsetzungen des Studiums sind in dieser besonderen Situation auffällig?
  • Welchen Einfluss hat die Corona-Situation in der Wahrnehmung der Studierenden auf ihre soziale Integration?
  • Welche Gestaltungsaufgaben ergeben sich aus einer besseren Kenntnis der Situation der Studierenden für Lehrende und Studiengangbeauftragte?

In diesem Sinne gliedert sich der Beitrag in eine annähernde Darstellung der Vielfalt persönlicher Situationen der befragten Studierenden (Kapitel 2), auffällige Herausforderungen in deren erstem Semester (3), einige im kleineren Kreise intensiv bearbeitete Reflexionsanlässe (4) und eine zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse, die im Sinne eines Ausblicks zu Gestaltungsaufgaben führt (5).

2 Die Vielfalt persönlicher Situationen der Erstsemesterstudierenden unter Corona-Bedingungen

Der Fragebogen, wie er im Anhang zu finden ist, wurde über einen Uni-Account mit Microsoft Forms online zugänglich gemacht und am Ende der Vorlesungszeit an alle Studierenden im beruflichen Lehramt der Universität Hamburg kommuniziert. An der Befragung zum Wintersemester 2020/21 nahmen 46 von insgesamt 126 eingeschriebenen Erstsemesterstudierenden teil, davon 27 mit gewerblich-technischen Fachrichtungen (= „GWL“ für Gewerbelehramt) und 19 mit wirtschaftlich-verwaltender Fachrichtung (= „HDL“ für Handelslehramt). Teilnehmende aus anderen Semestern und anderen Lehrämtern werden in diesem Kontext nicht betrachtet.

Wie in Tabelle 1 zu sehen ist, gab es in beiden BWP-Lehrämtern einen größeren Anteil an Studentinnen (niemand identifizierte sich als „divers“). Das Durchschnittsalter lag leicht über 25 Jahren, jedoch mit einer hohen Standardabweichung von 4,5 Jahren. Es kann also angenommen werden, dass diese Studierenden in Hinsicht auf ihre jeweiligen Lebensphasen und damit zusammenhängenden Entwicklungsaufgaben eine recht heterogene Gruppe darstellen.

Tabelle 1:     Demographische Daten der BWP-Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/21

 

Insgesamt

GWL

HDL

Befragte gesamt

46

27

19

- davon männlich

12

8

4

- davon weiblich

34

19

15

Durchschnittsalter

25,49

24,67

26,72

Standardabweichung

4,55

4,61

4,64

Um erste Einblicke in die persönlichen Situationen der Studierenden zu erhalten, wurden u. a. Bildungsabschlüsse, Wohnsituationen und Finanzierungsquellen erfragt (vgl. Items im Anhang und Abbildungen 1-3).

Abbildung 1: Item #5: Bildungsabschlüsse der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/21, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 46 NennungenAbbildung 1: Item #5: Bildungsabschlüsse der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/21, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 46 Nennungen

Ein Teil der Studierenden hatte bereits einen Hochschulabschluss oder Fach-/Meistertitel, die sich auf der gleichen DQR/EQR-Stufe wie ein Bachelor befinden. Laut geltender Studienordnung ist für das BWP-Studium in Hamburg eine abgeschlossene Ausbildung oder vergleichbare Praxiserfahrung Eingangsvoraussetzung. Bei nachweislicher beruflicher Qualifikation besteht in Hamburg auch die Möglichkeit, ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung das Studium aufzunehmen (§ 38 HmbHG). Dieses Spektrum an Zugängen findet sich schließlich in den unterschiedlichen Bildungsbiografien der Studierenden wieder, wobei an den hier vorliegenden Daten der Anteil der HDL-Studierenden mit Hochschulerfahrungen auffällig hoch ist (fast die Hälfte der HDL-Studierenden hatte bereits ein Studium abgeschlossen). Diese Vorerfahrungen kommen auch im nächsten Kapitel zu den Herausforderungen der Studieneingangsphase zur Geltung, wo sichtbar wird, dass die HDL-Studierenden mit dem Wissenschaftsmodus und den formalen Anforderungen der Universität vergleichsweise weniger Schwierigkeiten meldeten. Es bestätigt auch das im Gespräch mit Studierenden wiederkehrende Motiv, ein bereits absolviertes fachwissenschaftliches Studium auf den entsprechenden Teil im Lehramt anrechnen zu lassen, um de facto ein Teilzeitstudium unter Fortführung eines (Neben-)Jobs durchzuführen oder das Studium insgesamt zu verkürzen. So fällt auch unter den genannten Finanzierungsquellen auf, dass die Mehrheit der Studierenden angab, ihr Studium zumindest zum Teil aus eigener Arbeit zu finanzieren (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Item #8: Finanzierungsquellen der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/2121, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 84 NennungenAbbildung 2: Item #8: Finanzierungsquellen der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/2121, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 84 Nennungen

Abbildung 3: Item #7: Wohnsituation der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/21, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 52 NennungenAbbildung 3: Item #7: Wohnsituation der Erstsemesterstudierenden im WiSe 20/21, prozentuale Anteile der Angaben von insges. 52 Nennungen

Dieses Ergebnis mag kaum überraschen, steht jedoch manchem Vollzeitstudium-Anspruch des Bachelor-Master-Systems gegenüber. Nimmt man die Vielfalt der Wohnsituationen hinzu (vgl. Abbildung 3), aus der sich auch unterschiedliche familiäre Konstellationen lesen lassen, so wird klar: Die hier befragten Erstsemesterstudierenden haben neben ihrer universitären Rolle eine Vielzahl an weiteren Ansprüchen zu balancieren, zu denen auch Erwerbs- und Sorgearbeit zählen. Derartige Belastungsfaktoren, die ohnehin besonders Frauen betreffen, dürften sich nach aktueller Kenntnis unter Pandemiebedingungen noch wesentlich verstärkt haben (vgl. Kohlrausch/Zucco 2020). Mit Blick auf die Herausforderungen im folgenden Kapitel lässt sich die Hypothese formulieren, dass unter Corona-Bedingungen das Austarieren verschiedener Rollen und das damit verbundene Zeit- und Ortsmanagement besonders schwerfällt. So gab es im Freitext zu Item #50 „Bitte beschreiben Sie, wie Sie das letzte Semester erlebt haben“ Rückmeldungen wie:

„Als durchaus herausfordernd, aufgrund der aktuellen Bedingungen. Auch wenn ich das Glück hatte, nicht so viele Kurse wählen zu müssen, so war die Doppelbelastung Arbeit + Uni und zusätzlich Corona schon stark zu spüren.“

Gleichzeitig gab es gegensätzliche Einschätzungen, die gerade in der Digitalisierung von Lernangeboten eine Flexibilisierung und damit Erleichterung des Studiums unter Rollenvielfalt äußerten:

„Durch das Online-Studium kann ich mehr schaffen und traue mir jetzt mehr zu. [Ich habe die] Inhalte von aufgezeichneten Veranstaltungen viel besser verstanden und gefühlt bin ich nie auf der Strecke geblieben. Habe das Gefühl, ich werde das Studium trotz Arbeit und Kind schaffen.“

Das Spektrum der Wahrnehmungen kann mit knappen studentischen O-Tönen markiert werden von „angenehm flexibel“ bis „nicht schön, alles online, ich bin vereinsamt“. Um dem Schlagwort „Vereinsamung“ und den emotionalen Zuständen nachzuspüren, wurden mithilfe der Global Subjective Happiness Scale (GSHS, Lyubomirsky/Lepper 1999) und einer Abfrage zur sozialen Vernetzung im Studium (Item #49) Indikatoren für das subjektive Wohlbefinden der Studierenden erhoben. Wie unter anderem die NAKO-Gesundheitsstudie zeigte, nannten besonders jüngere Erwachsene deutlich stärkere Symptome von Angst, Stress und Depressionen während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 (BMBF 2020). Es wäre zu vermuten, dass auch die Erstsemesterstudierenden ein vergleichsweise geringes Wohlbefinden äußerten. Während dies in den Freitextfeldern durchaus durchscheint, lagen die Ergebnisse der „Glücksskala“ GSHS im Schnitt im leicht positiven Bereich bei 4,73 von 7; dies entspricht laut Seligman (2017, 46) und den Autorinnen der Skala einem Durchschnittswert für Erwachsene. Der Durchschnitt für die soziale Vernetzung lag hingegen im schlechteren Bereich bei 2,67 von 5, also zwischen „teils/teils“ und „schlecht“. Dies entspricht zunächst der Erwartung, dass sich die Vernetzung der Studierenden unter Pandemiebedingungen als schwierig erwies; in Verbindung mit der Selbsteinschätzung zum Wohlbefinden schien dies die Studierenden jedoch nicht allzu sehr emotional zu belasten. Auch die Korrelation zwischen diesen beiden Skalen war mit 0,24 eher gering. Dies bestätigt den allgemeinen Eindruck von Bohndick (2020) und spezifisch für Wirtschaftspädagog*innen von Naeve-Stoß (2013) und Petzold-Rudolph (2017), dass Lehramtsstudierende ihr Studium vergleichsweise pragmatisch anforderungsorientiert verfolgen. Dies kann zum einen durch den meist sehr konkreten Berufswunsch bzw. das konkrete berufliche Interesse erklärt werden, hat jedoch auch deutliche institutionelle Gründe:

„Aufgrund der spezifischen Studienstruktur ergeben sich für Studierende lehramtsbezogener Studiengänge erschwerte Integrationsbedingungen. Sie pendeln fortwährend zwischen verschiedenen Studienbereichen und müssen sich auf unterschiedliche fachliche und soziale Kontexte einstellen. Darüber hinaus werden sie in den einzelnen Fakultäten sowohl von den Lehrenden als auch von den Mitstudierenden häufig als ‚Gäste‘ beurteilt. Es fällt ihnen daher vergleichsweise schwer, soziale Kontakte zu knüpfen und ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln sowie kompetente Ansprechpartner(innen) bei lehramtsspezifischen Fragen oder Schwierigkeiten zu finden. Die Fragmentierung von Studiengängen mit Lehramtsbezug in unterschiedliche Teilbereiche birgt somit die Gefahr der tendenziellen Isolierung von Lehramtsstudierenden.“ (Petzold-Rudolph 2017, 421; mit Verweis auf eigene empirische Befunde zu BWP-Studierenden und diverse verwandte Studien)

In der Konsequenz werden andere intrinsisch motivierende Dimensionen oft abgeschrieben und es stellt sich Pragmatismus, nicht selten Fatalismus ein. Auch in den O-Tönen unseres Fragebogens (Item #51) finden sich Aussagen dazu, dass sich Studienziele bereits nach dem ersten Semester in eine instrumentelle Richtung bewegten:

„Irgendwie bestehen.“ – „Durchhalten!“

„Es bleibt bei meinem Anspruch zu bestehen und wenn ich dabei etwas für mich mitnehmen kann, sehe ich es als positiv an.“

„Die Pflicht des Studiums steht im Vordergrund und nicht der Spaß an einem neuen Lebensabschnitt.“

Mit Blick auf die Besonderheiten des Studieneinstiegs unter Pandemiebedingungen ließen sich nun zwei Hypothesen formulieren: Einerseits könnte die noch geringere soziale Vernetzung die bekannten Herausforderungen zusätzlich verstärken und das Studium weiter erschweren, andererseits könnte es gerade deshalb keinen besonderen Effekt geben, da Studierende des (BWP-)Lehramts auch im Normalfall unter vergleichsweise gering integrierenden Bedingungen studieren. Für eine belastbare Aussage wäre es wohl nötig, eine längerfristige Vergleichsstudie anzulegen. Für eine erste Exploration ist es zielführend, die Studierenden zu ihren aktuellen Wahrnehmungen ihrer Studienziele und -herausforderungen zu befragen, wie im Folgenden besprochen wird.

3 Einschätzung der Studierenden zu Studienzielen und -anforderungen

Hierzu wurden zwei Skalen der StuFHe-Studie zur Studieneingangsphase herangezogen (Bosse et al. 2019). Um Tendenzen zu visualisieren, wurden farbige gestapelte Balkendiagramme erstellt, aus denen sich die prozentuale Verteilung von Antworten ablesen lässt (Abbildungen 4-7). Studierende, die ein Item als nicht relevant markierten, wurden aus dieser Ansicht exkludiert; die entsprechende Anzahl wurde hinter den jeweiligen Items mit „ex: n“ angegeben.

Wie im Anhang sichtbar wird, lassen sich im Sinne der StuFHe-Erhebung „Persönliche Ziele“ (Items #17-23) und „Formale Ziele“ (Items #24-27) unterscheiden. Aus den Balkendiagrammen in Abbildung 4 wird deutlich, dass die Erstsemesterstudierenden mit der Erreichung formaler Ziele insgesamt zufriedener waren als mit den persönlichen, wobei hier auch die meisten Exklusionen zu sehen sind, da Studierende bestimmte Ziele für sich als nicht relevant ausschlossen – formale Ziele wurden als weniger problematisch und gleichzeitig weniger relevant eingeschätzt, was die O-Töne im vorigen Abschnitt auf den ersten Blick relativieren würde. Schaut man jedoch auf die Unterschiede zwischen GWL- und HDL-Studierenden (Abbildungen 5 und 6), so zeigt sich, dass besonders HDL-Studierende die formalen Ziele in den Vordergrund stellten.

Abbildung 4: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, alle befragten BWP-ErstsemesterAbbildung 4: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, alle befragten BWP-Erstsemester

Abbildung 5: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, nur befragte GWL-ErstsemesterAbbildung 5: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, nur befragte GWL-Erstsemester

Abbildung 6: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, nur befragte HDL-ErstsemesterAbbildung 6: Items #17-27, Zufriedenheit mit der bisherigen Erreichung von Studienzielen, nur befragte HDL-Erstsemester

Es ließe sich interpretieren, dass HDL-Studierende bereits nach dem ersten Semester, stärker als GWL-Studierende, den Anspruch an gute Noten aufgegeben haben und (nur noch) „irgendwie durchkommen“ wollen. In Verbindung mit der geringeren Zufriedenheit der HDL-Studierenden mit ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung weist dies auf spezifische Schwierigkeiten im HDL-Studium hin, die andernorts z. B. bei Casper et al. (2020) und Casper/Tramm (2020) diskutiert wurden und in der hohen Unzufriedenheit mit dem Studienziel „meinem Fachinteresse folgen und mich mit meinem Studiengang identifizieren“ einen übergeordneten Ausdruck finden: Der wirtschaftswissenschaftliche Studienteil wird als formalistisch, anspruchsvoll, leistungsorientiert und tendenziell konkurrenzfördernd wahrgenommen, während der persönliche Ertrag für die angestrebte künftige Berufstätigkeit als gering eingeschätzt wird. Auch in den O-Tönen finden sich entsprechende Aussagen:

„Themen und Inhalte werden nur reingepresst und wir werden irgendwie durch die Prüfungen getrieben. Das fühlt sich nicht gut an und ist auf Dauer auch nur schwer auszuhalten. Es sind nicht die Inhalte, sondern die extreme Masse an Aufgaben und Inhalten. Es ist quasi, als stünde man vor drei gleichzeitig brennenden Häusern und würde nur da löschen, wo es gerade am dringendsten ist. Wie soll es möglich sein, den Stoff vom Semester zu wiederholen, wenn man die ganze Woche komplett damit beschäftigt ist, die Inhalte und Aufgaben der laufenden Woche zu verarbeiten/bearbeiten? Die Klausuren gehen direkt nach der Vorlesungsphase ohne Vorbereitungszeit los... Ich hoffe, dass vieles am digitalen Semester liegt und besser wird, wenn die Corona Krise vorbei ist und wir kein verkürztes Semester mehr haben.“

Oder kurzgefasst:

„Arbeitslastig, nicht immer an der zu erlernenden Tätigkeit orientiert“

Es ist anzunehmen, dass die bekannte fehlende Identifikation mit dem Studiengang durch die Pandemiebedingungen noch verschlechtert wird, wie ein weiterer O-Ton illustriert:

„Dadurch, dass man diese Praktika nicht machen konnte, ist es mir schwergefallen, sich in dem Beruf besser einzufühlen bzw. real zu sehen, wie es ist, Unterricht durchzuführen. Also wie der Beruf ist. Ich hab eher etwas Angst, dass das nachher nicht der richtige Beruf ist.“

Auch in der Einschätzung von Studienanforderungen zeigen sich diese Unterschiede zwischen GWL- und HDL-Studierenden. Im Folgenden soll der Fokus jedoch auf den aggregierten Daten liegen, um die übergreifend relevantesten Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Im Sinne dieser zweiten StuFHe-Skala lassen sich Studienanforderungen unterscheiden in die folgenden Anforderungsdimensionen und -faktoren (Bosse et al. 2019, 31):

  • Inhaltliche Dimension: „Wissenschaftsmodus“ (Items #28-30), „Studienfach-Interesse und -Anwendungsbezug“ (#31-33),
  • Personale Dimension: „Lernaktivitäten“ (#34-37), „Leistung und Misserfolg“ (#38-40),
  • Soziale Dimension: „Kontakt und Kooperation“ (#41-44) und
  • Organisatorische Dimension: „Studienorganisation“ (#45-48).

Abbildung 7: Items #28-48, Einschätzung von Studienanforderungen, alle befragten BWP-ErstsemesterAbbildung 7: Items #28-48, Einschätzung von Studienanforderungen, alle befragten BWP-Erstsemester

Aus Abbildung 7 wird erkenntlich, dass die drei Top-Herausforderungen, gemessen am Anteil der Rückmeldungen mit „sehr schwer“ und „eher schwer“, im personalen Bereich „Lernaktivitäten“ liegen: „erkennen, wie man sinnvoll lernt“, „Lernaktivitäten zeitlich sinnvoll strukturieren“ und „die Menge an Lernstoff bewältigen“. Interessanterweise finden sich in den O-Tönen zahlreiche Verknüpfungen ebendieser Herausforderungen mit sozialen Faktoren, auch wenn die Kategorie „Kontakt und Kooperation“ bei den StuFHe-Items weniger auffällig war:

„Kontakt zu Mitstudenten aufzubauen ist schwerer. Das ist etwas schade. Und man bekommt nicht so mit, ob man die einzige Person ist, die gerade das Thema nicht verstanden hat.“

„Ich habe es [das Semester] als herausfordernd empfunden. Durch die Digitalisierung und nicht den persönlichen Kontakt zu meinen Kommilitonen, hab mich sehr häufig isoliert gefühlt.“

„Zurzeit fühlt es sich an, als wäre es für jeden ein Einzelkampf“

„Vor allem den Austausch mit Kommilitonen vermisse ich sehr.“

„Unglaublich viel zu tun, weil man alles alleine macht, weil man niemanden kennt und auch keine Chance hat, jemanden kennen zu lernen. Man weiß nicht mal, ob man ein Thema denn wirklich richtig verstanden hat oder ob es eigentlich ganz anders richtig wäre.“

Ein O-Ton führt unseres Erachtens äußerst treffend die bisher aufgeschienenen Problemkomplexe des Corona-Semesters auf die personale Anforderungsdimension zusammen:

„Auch wenn man sich in Zoom [dem Video-Konferenz-Standard an der Uni Hamburg] gegenseitig sehen kann, lernt man sich nicht kennen und es kommen keine wirklichen Kontakte zustande. Der Austausch mit Kommilitonen fehlt komplett. Die Atmosphäre und Dynamik von mündlicher Beteiligung über Zoom ist außerdem wesentlich schlechter als in Präsenz. Es vermischen sich Studium und Privatleben komplett, dadurch dass alles zu Hause stattfindet. Man hat keine Trennung mehr zwischen Arbeit/Studium und Freizeit. Dadurch fällt es mir auch jeden Tag schwerer, mir eigene Zeitpläne für Aufgaben und Lernzeiten zu geben. Die Selbstorganisation und -motivation fällt sehr schwer, wenn man jeden Tag alleine nur vor dem Laptop sitzt.“

Aus diesen ersten explorativen Daten ergibt sich unseres Erachtens ein Bild des Studieneinstiegs unter Pandemiebedingungen, das gezeichnet ist von

  • hoher Rollen- und Anforderungsvielfalt durch die Verlagerung des Studiums in den privaten Bereich und damit verbunden erhöhten Anforderungen an die Selbstorganisation;
  • geringer Identifikation mit der Universität und dem eigenen Studiengang;
  • hoher Unsicherheit aufgrund fehlender Erfahrungswerte und gleichzeitig fehlender Feedbacks von Mitstudierenden.

All dies betrifft ebenjene theoretisch und empirisch bekannten Herausforderungen von BWP-Studierenden (s. o. Naeve-Stoß 2013; Petzold-Rudolph 2017) und weist auf eine deutliche Verschärfung von deren Problematik hin. Die O-Töne deuten außerdem an, dass der besondere Wert der sozialen Integration womöglich nicht im Lebensgefühl und Spaßfaktor des Studierens liegt (was sie mit Blick auf den Studienerfolg im engeren Sinne verzichtbar erscheinen ließe), sondern (unter Pandemiebedingungen besonders spürbar) in der gegenseitigen Unterstützung, Orientierung und Entlastung im Sinne einer effektiven Lerngemeinschaft (Bielaczyc/Collins 2012): Im Austausch mit Mitstudierenden lassen sich Erwartungen und Ansprüche relativieren, Handlungsalternativen finden und Arbeitslasten aufteilen. Es mag für alle Erstsemesterstudierenden eine besondere Herausforderung sein, die noch unbekannten äußeren Anforderungen, Normen und die eigenen Ansprüche auszutarieren. Wenn sie dabei jedoch aufgrund einer „Stay at Home“-Politik maßgeblich auf sich allein gestellt sind und die soziale Integration als Orientierungsrahmen erschwert ist, gewinnt diese Anforderungsdimension an Brisanz. Im Sinne von StuFHe identifizierten die Studierenden die soziale Dimension nicht per se als besonders herausfordernd – sie lässt sich aber unseres Erachtens aus den O-Tönen klar als mangelnde Ressource herauslesen, ohne die es eben in der personalen Dimension zu erhöhten, weil allein zu bewältigenden Anforderungen kommt.

Bis hierhin lässt sich festhalten: Die hohe Diversität der Studierenden in Hinsicht auf ihre Lebensphasen und -umstände spricht dafür, in relevanten Anforderungsbereichen Unterstützungsangebote zu gestalten – nach subjektivem Bedarf wahrzunehmende Angebote, keine Pflichten. Gleichzeitig sprechen die integrationserschwerenden institutionellen Fragmentierungen von Lehramtsstudiengängen und die unter Pandemiebedingungen tendenziell noch höheren Mehrfachbelastungen dafür, Unterstützungsangebote curricular zu verankern und in den Währungen des Bachelor-Master-Systems zu vergüten. Dadurch würde den tendenziell pragmatischen Einstellungen der Studierenden und den Opportunitätskosten „extracurricularer“ Angebote entsprochen, die anforderungsorientierte Studierende im Zweifelsfall eher als Zusatzbelastung interpretieren und ausschließen.

Um den Herausforderungen der Studieneingangsphase während der Pandemie und darüber hinaus zu begegnen, sind letztendlich diverse Unterstützungsangebote denkbar. Ein an der Universität Hamburg neu erprobter, den im letzten Absatz geschilderten Überlegungen folgender Baustein ist das Wahlpflichtseminar „Den Einstieg ins Lehramtsstudium mit Reflexionsinstrumenten gestalten“, kurz ELARI. Dieser Beitrag ist nicht der Rahmen, um das Konzept dieser Veranstaltung detailliert auszuführen, es bietet jedoch einen exemplarischen qualitativen Einblick in das Erleben der Studierenden im Wintersemester 2020/21. In jeder Seminarsitzung wurden mit den Teilnehmenden anlassbezogene Reflexionen durchgeführt, wobei zunächst aktuelle Anlässe gesammelt wurden und dann nach gemeinsamer Auswahl jeweils ein Anlass in der Gruppe bearbeitet wurde. Die bearbeiteten Anlässe stehen damit exemplarisch für die relevantesten Herausforderungen dieser Erstsemesterstudierenden und sollen im Folgenden erläutert werden, um die Ergebnisse der quantitativen Befragung qualitativ zu elaborieren und mit weiteren O-Tönen zu illustrieren. Dies bietet sich insbesondere an, da die Reflexionen in ELARI den Anforderungsdimensionen von StuFHe entsprechend vorstrukturiert wurden und deren Ausprägungen unter den besonderen Bedingungen weiter konkretisieren, als es die allgemeineren StuFHe-Kategorien per se ermöglichen.

4 Exemplarische Reflexionsanlässe von BWP-Studierenden der Universität Hamburg in der Studieneinstiegsphase

Mit ELARI („Den Einstieg ins Lehramtsstudium mit Reflexionsinstrumenten gestalten“) wurde im Rahmen eines Lehrlabors zur Verbesserung der Lehrer*innenbildung ein Seminar für den Wahlbereich des neuen Bachelor of Education konzipiert, das die Anliegen der Studierenden in den Mittelpunkt stellt. An einem Pilotdurchlauf mit sechs Sitzungen im WiSe 2020/21 hat eine Gruppe von zehn Studierenden teilgenommen (davon 5 HDL, 3 GWL, 1 Sek I, 1 Sonderpädagogik). Anhand der Sammlung und Analyse der dort aufgekommenen Reflexionsanlässe lässt sich illustrieren, was den Teilnehmenden in der Studieneingangsphase unter Pandemiebedingungen subjektiv wichtig war, wobei die geringe Anzahl der Teilnehmenden und Sitzungen natürlich nur einen Ausschnitt der Themen abbilden kann, die Studierende in der Einstiegsphase beschäftigen.

Ähnlich den bereits ausgearbeiteten Reflexionsseminaren zur Praktikumsphase im Hamburger Masterstudium (vgl. Tramm/Naeve-Stoß 2018, Tramm et al. 2012) möchte ELARI den Studierenden schon zum Bacheloreinstieg erste Reflexionsinstrumente und -praktiken an die Hand geben. Dies soll ihnen dabei helfen, sich im System Uni zurechtzufinden, ihre Selbstleitung zu stärken (vgl. Cohn 1975) und personale Kompetenzen auszubauen sowie eine kritisch-konstruktive Grundhaltung zu entwickeln, die sie handlungsfähiger für ihr Studium macht und gleichzeitig die Basis für eine spätere, idealerweise souverän-reflektierte Lehrtätigkeit bildet (vgl. Casper et al. 2020, Brand/Tramm 2002, 272f.).

Anknüpfend an Straßer (2008), der in der Tradition von Schön (1987) das Reflektieren in „reflection-in-action“ als Mitdenken und das „reflection-on-action“ als wirkliches Reflektieren unterteilt, war es uns als Entwicklungsteam des Seminars wichtig, kürzlich erlebte reale Erfahrungen und emotionale Anliegen der Studierenden aufzugreifen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ein Reflexionsangebot in der Studieneingangsphase eine bessere Identifikation mit dem Studiengang und eine höhere Motivation begünstigt, das Studium als Instrument zur Professionalisierung und persönliches Bildungsangebot wahrzunehmen, statt unreflektiert in den Modus des instrumentellen „Abarbeitens“ zu geraten.

Für die Anliegensuche wurden die Studierenden in jeder Sitzung zunächst eingeladen, für sich selbst oder in Kleingruppengesprächen nach aktuellen Erlebnissen, Gedanken oder bewegenden Momenten aus dem Uni-Kontext zu suchen und diese schlagwortartig auf einem digitalen Tool (Flinga-Board) festzuhalten. Als strukturelle Vorgabe erhielten die Studierenden ein Reflexionsfeld (Abbildung 8), das in Anlehnung an das Vier-Faktoren-Modell der Themenzentrierten Interaktion nach Cohn (1975) gestaltet und durch Leitfragen an die vier entsprechenden Anforderungsdimensionen von StuFHe angeknüpft wurde (vgl. Kapitel 3). Die Studierenden wurden gebeten, ihre Beiträge entlang der Faktoren ICH (Personale Dimension), WIR (Soziale Dimension), ES (Sachliche/Inhaltliche Dimension) und des GLOBE (Organisatorische/Institutionelle Dimension) zu verorten.

Abbildung 8: Reflexionsfeld des Begleitseminars ELARI im WiSe 2020/21, basierend auf Cohn (1975) und Bosse et al. (2019)Abbildung 8: Reflexionsfeld des Begleitseminars ELARI im WiSe 2020/21, basierend auf Cohn (1975) und Bosse et al. (2019)

Nach einem kurzen „Anteasern“ der gesammelten Beiträge wurde im nächsten Schritt durch die Gruppe ein Anliegen und damit ein*e Fallgeber*in für eine vertiefte Bearbeitung im Plenum ausgewählt. Hierbei war der ALACT-Reflexionszirkel nach Korthagen (Korthagen/Nuijten 2018; Korthagen/Meyer 2002) die leitende Struktur: Ausgehend von einer narrativen Fallbeschreibung und Bewusstwerdung wurde ein theoriegeleitet-analytischer Blick auf das eigene Erleben geworfen, mit jeweils passenden Modellen und Instrumenten und dem ultimativen Ziel, im kollegialen Austausch angemessene, erprobungsfähige Handlungs- und Deutungsalternativen zu entwickeln. Bewährt haben sich aus ähnlichen Kontexten verschiedene Modelle zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Kommunikationsgestaltung und zum Stress- und Zeitmanagement. Im oben angesprochenen Master-Kernpraktikum wurden diese, erweitert um didaktische und schulorganisatorische Modelle, in einem „Reflexionskit“ zusammengetragen. Eine Arbeitsgruppe der Universität und des Landesinstituts Hamburg arbeitet derzeit außerdem an einem für die phasenübergreifende Lehrer*innenbildung gedachten Modell für „Tiefe Reflexion individueller Persönlichkeitsentwicklung“ (TRiP). Für die Einstiegsphase ins Studium sind jedoch andere Modelle hilfreich als für das Reflexionsseminar zum Master-Kernpraktikum oder für die Haupt- und Fachseminare des Referendariats, da in diesen späteren Phasen die Reflexion schulpraktischer Erfahrungen und unterrichtlichen Handelns im Vordergrund steht. Der Modus theoriegeleiteter Reflexion bleibt durchgängiger Anspruch der Lehrer*innenbildung in Hamburg, die Reflexionsgegenstände und Anlässe ändern sich jedoch im Laufe der Professionalisierung. So ist es ein Ziel des Lehrlaborprojekts zu ELARI, die gesammelten Reflexionsanlässe daraufhin auszuwerten, welche passenden, ggf. zu ergänzenden Modelle und Theoriebezüge bei der Begleitung der Einstiegsphase künftig hinzugezogen werden können und wie diese Phase im Hinblick auf typische Anforderungsverläufe heuristisch modelliert werden kann. Die daraus folgenden didaktischen Überlegungen sollen jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein, sondern künftig an anderer Stelle ausgeführt werden.

In den sechs Terminen des Pilotseminars wurden insgesamt 87 Anlasstitel gesammelt, wobei in der ersten Sitzung noch 38, in den späteren je 9-10 Anlässe gezählt wurden, da die Teilnehmenden ab der zweiten Sitzung gebeten wurden, nur einen (ihren relevantesten) Anlass pro Person zu posten. In Übereinstimmung mit den Fragebogenergebnissen ließ sich bei der inhaltlichen Zuordnung der Anlässe ein klarer Schwerpunkt auf der personalen Dimension mit 55 Posts feststellen, woran deutlich wird, dass die Teilnehmenden in der Studienanfangsphase stark mit sich selbst beschäftigt waren. Sie kamen mit zahlreichen persönlichen Problemen und Fragen in die Sitzungen und nahmen ihre Entwicklungsaufgaben besonders im Selbstmanagement wahr, was die Ergebnisse der quantitativen Befragung deutlich für diese Teilgruppe bestätigt und weiter konkretisiert. Alle Anlässe wurden in Anlehnung an StuFHe kodiert; Tabelle 2 zeigt dies mit einer detaillierteren Untergliederung der besonders relevanten personalen Dimension. Da das Reflexionsfeld zweidimensional war, konnten Anlässe auch räumlich zwischen mehreren Faktoren platziert werden; für die Kodierung wurde dann der jeweils ausschlaggebende Faktor im Sinne von StuFHe gewählt.

Tabelle 2:     Zuordnung der geposteten Reflexionsanlässe zu den Dimensionen des Reflexionsfeldes und vorläufige Kodierungen der Personalen Dimension

Sitzungen:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Gesamt

Personale Dimension (ICH)

19

7

9

8

5

7

55

„Selbstzweifel“

11

2

     

1

14

„Arbeitsorganisation“

2

1

 

3

2

3

11

„Stressempfinden“

5

 

1

3

   

9

„Motivation“

1

 

3

1

1

2

8

„Zeitmanagement“

 

3

 

1

2

1

7

sonstige

 

1

5

     

6

Soziale Dimension (WIR)

9

   

1

1

1

12

Inhaltliche Dimension (ES)

6

 

1

 

3

2

12

Organisatorische Dimension (GLOBE)

4

2

 

1

   

7

Anlässe gesamt

38

9

10

10

9

10

86

Tabelle 2 legt auch nahe, dass die Anforderungen innerhalb eines Semesters in unterschiedlichen Phasen verlaufen. So waren Themen wie Zweifel und soziale Eingebundenheit eher zu Beginn des Semesters akut, während Arbeitsorganisation und Zeitmanagement das Semester durchgängig begleiteten. Es könnte sich lohnen, über diese geringe Stichprobe hinaus Zusammenhänge zwischen Anliegen und Phasenverlauf des Semesters zu überprüfen, um typische Verläufe heuristisch zu modellieren und passende Unterstützungsangebote zu konzipieren.

Es konnten schließlich zu allen in StuFHe benannten Herausforderungen Beispiele gefunden werden, die im Folgenden mit O-Tönen aus den Reflexionen illustriert werden, beginnend mit der personalen Dimension. Interessant ist, dass in der ersten Sitzung nahezu jede Person einen Beitrag zu „Selbstzweifel“ postete. Es wurden grundsätzliche Unsicherheiten über die Machbarkeit des Studiums verbalisiert, die z. B. im hoch eingeschätzten Aufwand und einer langen Pause seit der letzten Lernphase begründet liegen:

„Bin ich für den Unialltag gewappnet? Wie ist das Studieren von zu Hause, kann ich mich konzentrieren? Bin ich diszipliniert genug? Man muss in das Wissenschaftliche eintauchen, das fällt schwer. Man bekommt kein direktes Feedback von anderen. Bin ich mein größter Feind?“

„Ich hatte eine lange Schulpause: Das Wissen entwickelt sich weiter, schaff ich das oder bin ich komplett raus?“

Zweifel im Zusammenhang mit der eigenen Leistung und der Lernaktivität wurden im späteren Semesterverlauf deutlicher, z. B. in der dritten Sitzung:

„Komme ich überhaupt mit? Musste viele Texte lesen und es ist sehr viel auf einmal, die Hälfte ist nicht hängen geblieben. Mir fehlt der Austausch mit anderen. Was muss ich mir merken? Das macht mir Druck. Mir fehlt das Vertrauen zu mir selber.“

Das Zusammenspiel von Zeit- und Leistungsdruck und der sozialen Isolation durch Corona verschärfte in diesem Sinne tatsächlich die Verunsicherung der Studierenden. Diese Verunsicherung spiegelte sich auch im Bereich „Arbeitsorganisation“ wider. Die Beiträge der ersten Sitzung deuteten auf ein hohes Bedürfnis nach Struktur und Sicherheit hin. Nicht nur die Menge an Aufgaben sei zu koordinieren, auch die digitale Lehre mit den neuen technischen Herausforderungen musste in diesem Semester allein bewältigt werden:

„Corona macht es noch schwerer, sich zu orientieren. Es gibt viele unterschiedliche Plattformen und Professoren und alle wählen einen anderen Weg für die Strukturierung ihrer Veranstaltung. Man verliert sich. Es gibt viele Wege und gefühlt muss man überall gleichzeitig sein. Verpass ich was? Es wäre hilfreich, eine Struktur zu finden.“

Das eng mit der Arbeitsorganisation verwobene „Zeitmanagement“ bekommt durch Corona einen erhöhten Stellenwert. Ein*e Teilnehmende*r beschrieb das Gefühl erhöhten Arbeitsdrucks und nahm eine Verstärkung durch Corona wahr, weil das ständige Zu-Hause-Sein und die Anforderung, viele asynchrone Vorlesungen eigenverantwortlich besuchen zu müssen, zu einem ungeregelten Tagesablauf führte.

„Es geht im Homeoffice immer weiter, man kann nie aufhören – vor allem bei Mathe. Hier gibt es große Erwartungen bezüglich der Vorkenntnisse.“

„Wie schaffe ich den Uni Alltag? Hab mir frei genommen und hatte dann ein schlechtes Gewissen.“

Viele Posts wiesen darauf hin, dass ein Bedarf an Handwerkszeug für Arbeitsorganisation, Zeit- und Stressmanagement bestand (Anlasstitel, wie sie auf dem Flinga-Board gepostet wurden, werden in [eckigen Klammern] zitiert): [Wie soll ich das alles schaffen?], [Lehrinhalte werden nur so reingepresst], [Prüfungsvorbereitungen…Wie fange ich an?], [Es ist kaum möglich, alles zu bewältigen. Woran liegt das? Liegt es an Corona oder daran, dass uns Erstis ein kompletter Monat fehlt?]

Was sich in den ersten zwei Sitzungen im Bedürfnis nach Struktur ausdrückte, wich in der dritten Sitzung einer großen Erschöpfung und einem Motivationsverlust. Hinzu kam, dass einige Studierende erste Rückmeldungen auf Übungen bekommen hatten und der Leistungsdruck zunahm. Die Teilnehmenden äußerten das Gefühl, dass sich alles „anstaut“:

„Keine Motivation mehr wegen des digitalen Semesters. Es ist eine Achterbahn der Gefühle. Hab Übungen zurückbekommen, die total schlecht waren – und dann sind sie wieder gut. Und jetzt kommen die Klausuren.“

„Ich habe seit März Homeoffice und Home-Uni und habe Motivationsprobleme und es ist so ein Trott. Ich habe keine Motivation, etwas zu machen. Mir fehlt der Drive loszulegen.“

„Mir geht es wie dir. Ich finde Politik eigentlich spannend aber in der Uni kann ich mit dem Kurs nichts anfangen. Mir geht es auch so, kämpf mich auch durch, bist nicht alleine.“

„Bitte nicht noch ein digitales Semester“.

Die Uni sei „eigentlich viel mehr als das“, was sie gerade erlebten, und an sich eine gute Institution. Ein weiteres digitales Semester wäre aber kaum durchzuhalten und manche dachten sogar über den Studienabbruch nach.

Die soziale Anforderungsdimension schließlich kann aus vielen vorherigen Beiträgen bereits herausgelesen werden. So wurde deutlich, dass die fehlende Vernetzung Einfluss auf das Sicherheitsgefühl der Studierenden nahm, denn es mangelte an Möglichkeiten, sich mit Kommiliton*innen über Arbeits- und Lernwege auszutauschen und den eigenen Arbeitsaufwand daran relativiert einzuschätzen. In der ersten Sitzung wurde das Ankommen in der Studierendengemeinschaft und das fehlende soziale Miteinander im Zusammenhang mit Corona auf dem Flinga-Board thematisiert: [Wie komme ich an?], [Hoffnung auf Offenheit], [Lerne ich in der neuen Stadt trotz Corona neue Leute kennen?], [Wie weit kann ich gehen, ohne aufdringlich zu wirken?], [Die Uni lebt vom Austausch und Miteinander, aber Corona macht vieles schwieriger]. Ein Post lautete schlicht [Einsamkeit].

Einzelne Anekdoten verdeutlichen dieses Erleben: Ein*e Teilnehmer*in beschrieb den Versuch, in einer Vorlesung mit ca. 200 Teilnehmenden eine Arbeitsgruppe zu finden, als sehr herausfordernd. Es habe viel Mut gekostet, eine Anfrage zum Gründen einer Lerngruppe in eine anonyme WhatsApp-Gruppe zu stellen und letztlich eine einzige Rückmeldung zu erhalten. In einer späteren Sitzung berichtete ein*e Teilnehmer*in von einem Online-Seminar, das emotional sehr herausfordernd war. Das alleinige Verarbeiten der aufkommenden Emotionen fiel sehr schwer und ließ den „normalen Uni-Betrieb“ vermissen, bei dem man sich nach den Veranstaltungen über die Erlebnisse und Gedanken austauschen konnte oder das Erlebte „zumindest in der Bahn auf dem Heimweg“ verarbeiten könnte. Bei dem Selbststudium zu Hause ginge „nur der Bildschirm aus“ und man müsse „dann sehen, wie man zurechtkommt“.

In der Dimension sachlich-inhaltlicher Anforderungen wiederum fanden sich zu Beginn des Semesters eher technische Fragen zum Gebrauch von e-Learning-Plattformen. Auch wurde die Wahl der Neben- bzw. Unterrichtsfächer kritisch betrachtet und die hohen Anforderungen in einigen naturwissenschaftlichen Fächern beschrieben, z. B. mit dem nachdrücklichen Anlasstitel [Mathocalypse now]. Der Abgleich zwischen den sachlichen Anforderungen und dem subjektiven Lernerfolg nahm Einfluss auf die Motivation und führte zu weiteren Formen des Selbstzweifels.

„War mein Nebenfach die richtige Wahl? Lass mich leiten. Sehr wissenschaftlich und viel Lektüre. Behalte mein Ziel im Auge. Ich möchte Friseure unterrichten. Ist das Nebenfach da hilfreich? Aktuell bin ich noch neugierig, aber ich frage mich, ob es für mein Ziel sinnvoll ist.“

In den späteren Sitzungen zum Semesterende hin traten dann die nahenden Prüfungen in den Vordergrund. Die Unsicherheit der Teilnehmenden nahm erneut zu, da Begriffe wie „Take-Home-Exam“ unbekannt waren und es schwer einzuschätzen war, wieviel und in welcher Form für solche Examen gelernt werden muss (oder „kann“):

„Take Home Exam? Man weiß noch gar nicht genau, wie das mit den Klausuren wird. Keine kann einem was sagen.“

„Wir haben gesagt bekommen, dass es schwerer wird. Macht es auch nicht besser mit so einer Ansage.“

In der institutionell-organisatorischen Dimension kam schließlich auch die Problematik der Anerkennung von Studienleistungen aus einem zuvor abgeschlossenen Studium auf (vgl. das dritte Kapitel) und die damit verbundene Frage, welche Seminare nun zwingend besucht werden müssen. In Anbetracht der zusätzlichen Belastungen durch Familie und Arbeit nahm das Thema für zwei betroffene Teilnehmende einen sehr hohen Stellenwert ein.

„Die Anträge sind raus und es fühlt sich an wie eine Lotterie. Worauf konzentriert man sich am besten? Ungewissheit.“

„Verkürzen: Ist es möglich? Ich bin schon älter und will keine Zeit mehr verlieren.“

Diese letzten O-Töne runden den Gesamteindruck ab und bieten erste Antworten auf die anfänglich formulierte Forschungsfrage, was Studierende der BWP in der aktuellen Studiensituation kennzeichnet: Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse markieren Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als eine hoch diverse, tendenziell ältere, lebens- und berufserfahrene und mit unterschiedlichsten Anforderungen konfrontierte Gruppe mit pragmatischem Berufsinteresse, die im Gegenzug wenig in ihren Studiengang insgesamt integriert ist. Die hieraus entstehenden vornehmlich personalen und sozialen Herausforderungen wurden durch die Pandemiebedingungen allesamt verstärkt, wie die exemplarischen Konkretisierungen aus den vorgestellten Tiefenreflexionen zeigen. Abschließend sollen auch die Erträge hinsichtlich der übrigen Forschungsfragen zusammenfassend diskutiert werden.

5 Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse und Ausblick

Insgesamt lässt sich festhalten: Die hier identifizierten auffälligen Anforderungen und Zielsetzungen der BWP-Studierenden unterscheiden sich unter Corona-Bedingungen nicht grundsätzlich von jenen im Normalfall, wie sie der Literatur bekannt sind (vgl. Naeve-Stoß 2013; Petzold-Rudolph 2017). Sowohl aus den Fragebogenergebnissen als auch aus den O-Tönen der ELARI-Reflexionen lässt sich jedoch eine Verschärfung typischer Herausforderungen erkennen, allen voran in Bezug auf die eingangs beschriebenen Funktionen sozialer Integration. Zur Frage danach, welchen Einfluss die Corona-Situation in der Wahrnehmung der Studierenden auf ihre soziale Integration hat, lässt sich resümieren: Die soziale Dimension wird nicht per se als besonders problematisch wahrgenommen; sie gerät für die ohnehin wenig integrierten Studierenden als Anforderungs- bzw. Zielkategorie in den Hintergrund – als Ressourcenkategorie hingegen hat sie enorme Bedeutung für die Bewältigung personaler Anforderungen. Ein Austausch mit anderen bietet Orientierung für das eigene Handeln in Bezug auf Qualität und Quantität der eigenen Leistungen und ermöglicht (tiefere) Reflexion durch das Verarbeiten von Emotionen und Eindrücken im Gespräch sowie das Gewinnen neuer Perspektiven. Es hat sich an den Freitexten des Fragebogens und mehr noch am Feedback der ELARI-Teilnehmenden gezeigt, dass der Austausch und das vertiefende kollegiale Reflektieren entlastende und stärkende Effekte haben können, denn die Erkenntnis, dass es anderen ähnlich geht, bietet Trost, Orientierung und Sicherheit. Kommentare aus der Abschlussrunde des ELARI-Seminars illustrieren dies: „You will never walk alone“, „Reflexion ist wichtig!“, „Ich freu mich, alle sitzen im gleichen Boot.“, „Reflexion bringt mich weiter und ist ein Instrument fürs Leben“, „Erstaunt und beruhigt, dass ich nicht alleine bin. Ich bin durch die Gruppe geerdet worden.“ Was für die Lehrer*innenbildung insgesamt kein Geheimnis ist, bestätigte sich hier auch für die Studieneingangsphase unter besonderen Bedingungen: Der kollegiale Austausch und die daraus emergierende Reflexionsfähigkeit sind nicht nur Komponenten professionellen Lehrer*innenhandelns, sondern auch des selbstbestimmten Studienhandelns. Die Studierenden erhalten über die gemeinsame Suche nach Handlungsalternativen selbstbestimmungsfördernde Instrumente an die Hand und können so mit höherer Motivation vom Studienbeginn an selbstgesteckte Ziele verfolgen.

In diesem Sinne ergibt sich u. E. aus der besseren Kenntnis der Situation der Studierenden eine besondere Gestaltungsaufgabe für Lehrende und Studiengangbeauftragte, nämlich zur Entwicklung von curricular verankerten Lern- und Unterstützungsangeboten, die zur sozialen Vernetzung und Förderung persönlicher Reflexionsfähigkeit in der Studieneingangsphase beitragen. Im Hinblick auf Integration, Identifikation und Motivation für das Studium sowie das Verfolgen von persönlichen Interessen und Studienschwerpunkten sollte bestenfalls ein Angebot an Reflexionskompetenz fördernden Begleitseminaren für das gesamte Studium angestrebt werden, zumindest aber während besonderer Phasen wie eben der Studieneingangsphase, Betriebs-/Schulpraktika oder besonders belastender Prüfungsphasen. Mit ELARI und dem dazugehörigen Lehrlabor z. B. wird dieses Anliegen auch über die Pandemiesituation hinausweisend weiterverfolgt. Für eine unmittelbare Verbesserung der Lage der Studierenden unter Pandemiebedingungen bieten sich unseres Erachtens schließlich eine Reihe von Möglichkeiten, von denen wir hier abschließend zwei ausgewählte Anstöße geben wollen:

Erstens: Wo es das Pandemiegeschehen verantwortbar zulässt, sollten für Erstsemester gezielte Ausnahmen von der „Distanzlehre“ in Betracht gezogen werden, um mit obligatorischen Präsenzangeboten den Start in die universitär-soziale Integration und das Ankommen am institutionellen und materiellen „Ort“ der Universität auch für jene Studierende zu erleichtern, die aufgrund vielfältiger Rollen und Anforderungen keine „zusätzlichen“ Beratungsangebote suchen. Im Anforderungswettbewerb des komplexen und für die Erstsemester noch kaum überblickbaren Studiums ist das Ritual des Ankommens eine bewusste Inszenierung wert, wie u. a. die nachhaltige Erfahrung aus studentischen Orientierungseinheiten zeigt.

Zweitens: Soziale Integration sollte, gerade in der Studieneingangsphase, nicht gegenüber akademischen Anforderungen und Leistungsansprüchen vernachlässigt werden, da sie letztendlich genau für diese Leistungen eine gewichtige Ressource ist. Während einer Pandemie scheint es uns nicht sinnvoll, Sachorientierung und Leistungsansprüche vorauseilend zu erhöhen, nur weil es mit den gegebenen Mitteln naheliegend ist. Universitäre Lehre sollte gerade in der Eingangsphase als Angebot des Kennenlernens von Menschen und Wissenschaften angelegt sein, nicht als Exzellenzritual des Sich-Beweisens im Abarbeitungsmodus (für den BWP-Studierende ohnehin anfällig sind). Durch angeleitete Vernetzung kann unseres Erachtens in nahezu jedem akademischen Format soziale Integration gefördert werden. Hier liegt die Verantwortung aktuell besonders bei den Lehrenden, denn was sich in einer Präsenzveranstaltung „drumherum“, „nebenher“ und „von allein“ sozialisiert, bedarf online einer gezielten Gestaltung und Leitung.

Literatur

Bielaczyc, K./Collins, A. (2012): Learning Communities in Classrooms. A Reconceptualization of Educational Practice. In: Reigeluth, C. M. (Hrsg.): Instructional-design Theories and Models. A New Paradigm of Instructional Theory, Volume II. Hoboken, 269-292.

BMBF/Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020): NAKO Gesundheitsstudie: Stärkere psychische Belastung durch Corona-Pandemie. Aktuelle Meldungen, 04.12.2020. Online: https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/nako-gesundheitsstudie-starkere-psychische-belastung-durch-corona-pandemie-12564.php (18.03.2021). https://doi.org/10.1080/02607476.2020.1724652

Bohndick, C. (2020): Predictors of dropout intentions in teacher education programmes compared with other study programmes. In: Journal of Education for Teaching 46 (2), 207-219. https://doi.org/10.1080/02607476.2020.1724652

Bosse, E./Mergner, J./Wallis, M./Jänsch, V. K./Kunow, L. (2019): Gelingendes Studieren in der Studieneingangsphase. Ergebnisse und Anregungen für die Praxis aus der Begleitforschung zum Qualitätspakt Lehre im Projekt StuFHe. Universität Hamburg. Online: https://www.openaccess.uni-hamburg.de/elke-bosse-stufhe-2019/elke-bosse-stufhe-2019.pdf (18.03.2021).

Brand, W./Tramm, T. (2002): Notwendigkeit und Problematik eines Kerncurriculums für die Ausbildung von Berufs- und Wirtschaftspädagogen. In: Baabe-Meijer, S./Haarmann, E. M./Spiess, I. (Hrsg.): Für das Leben stärken – Zukunft gestalten. Behindertenpädagogische, vorberufliche und berufliche Bildung – Verbindungen schaffen zwischen Gestern, Heute und Morgen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus Struve. Paderborn, 266-277.

Casper, M./Tramm, T. (2020): Wirtschaft 4.0 mit Handelslehrern 1.5? Lehre und Forschung zu den Einstellungen Studierender des Handelslehramts zu ihrer Fachrichtung als Komponente der Lehrerprofessionalisierung. In: Ziegler, B./Tenberg, R. (Hrsg.): Berufsbildung 4.0. Steht die berufliche Bildung vor einem Umbruch? Bonn, Leverkusen, 128-158. Online: https://www.agbfn.de/dokumente/pdf/AGBFN_%20Berufsbildung_4.0_Pr%C3%A4s_S3_Casper_Tramm.pdf (18.03.2021).

Casper, M./Tramm, T./Thole, C. (2020): Universitäre Lehrerbildung: Kritisch-reflexiv, multiperspektivisch, gestaltungsorientiert. Konzept und Erfahrungen aus der Veranstaltung „Wirtschaftswissenschaften als Gegenstand Ökonomischer Bildung“ an der Universität Hamburg. In: Fridrich, C./Hedtke, R./Ötsch, W.-O. (Hrsg.): Grenzen überschreiten, Pluralismus wagen. Perspektiven sozioökonomischer Hochschullehre. Wiesbaden, 265-290. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29642-1_14

Cohn, R. C. (1975): Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart.

Davidson, C./Wilson, K. (2013): Reassessing Tinto's Concepts of Social and Academic Integration in Student Retention. In: Journal of College Student Retention: Research, Theory & Practice 15 (3), 329-346. https://doi.org/10.2190/CS.15.3.b

Hodges, C./Moore, S./Lockee, B./Trust, T./Bond, A. (2020): The Difference Between Emergency Remote Teaching and Online Learning. Online: https://er.educause.edu/articles/2020/3/the-difference-between-emergency-remote-teaching-and-online-learning (23.09.2020).

Kohlrausch, B./Zucco, A. (2020): Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt. WSI Policy Brief, Düsseldorf. Online: https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-007676 (18.03.2020).

Korthagen, F. A. J./Meyer, W. (2002): Schulwirklichkeit und Lehrerbildung. Reflexion der Lehrertätigkeit. Hamburg.

Korthagen, F. A. J./Nuijten, E. E. (2018): Core reflection: Nurturing the human potential in students and teachers. In: Miller, J. P./Nigh, K./Binder, M. J./Novak, B./Crowell, S. (Hrsg.): International Handbook of Holistic Education. Milton, 89-99.

Lyubomirsky, S./Lepper, H. S. (1999): A Measure of Subjective Happiness: Preliminary Reliability and Construct Validation. In: Social Indicators Research 46 (2), 137-155. https://doi.org/10.1023/A:1006824100041

Petzold-Rudolph, K. (2017): Studienerfolg und Hochschulbindung. Die akademische und soziale Integration Lehramtsstudierender in die Universität. Wiesbaden.

Rhein, R. (2015): Hochschulisches Lernen – eine analytische Perspektive. In: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung - Report 38 (3), 347-363. Online: http://www.die-bonn.de/zfw/32015/rhein.pdf (18.03.2021).

Schön, D. A. (1987): Educating the reflective practitioner. Toward a new design for teaching and learning in the professions. San Francisco.

Seligman, M. E. P. (2017): Authentic happiness. London.

Straßer, P. (2008): Können erkennen – reflexives Lehren und Lernen in der beruflichen Benachteiligtenförderung. Entwicklung, Erprobung und Evaluation eines reflexiven Lehr-Lerntrainings. Bielefeld.

Tinto, V. (1975): Dropout from Higher Education: A Theoretical Synthesis of Recent Research. In: Review of Educational Research 45 (1), 89-125. https://doi.org/10.2307/1170024

Tramm, T./Naeve-Stoß, N. (2018): Praxisphasen im Lehramtsstudium: Es kommt darauf an, was man daraus macht. Erfahrungen mit dem Kernpraktikum an der Universität Hamburg. In: Schlicht, J./Moschner, U. (Hrsg.): Berufliche Bildung an der Grenze zwischen Wirtschaft und Pädagogik. Reflexionen aus Theorie und Praxis. Wiesbaden, 285-306. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18548-0_15

Tramm, T./Fahland, B./Naeve-Stoß, N. (2012): Das Hamburger Kernpraktikum – ein innovativer Ansatz zur Verknüpfung von Praxis- und Forschungsorientierung in der Lehrerbildung. Bundesarbeitskreis der Seminar- und Fachleiter/innen e. V. (BAK), Wege zur Professionalisierung. In: Seminar – Lehrerbildung und Schule (1), 105-117.

Anhang: Der Fragebogen

 

#

Item

Format: Optionen

 

Persönliche Daten

1

Geschlecht

Einzelauswahl: „männlich“, „weiblich“, „divers“

 

2

Alter

Feldeingabe Zahl

 

3

Ich studiere …

Einfachauswahl: „Handelslehramt“, „Gewerbelehramt“, „ein anderes Lehramt“, „Sonstiges“

 

4

In welchem Fachsemester studieren Sie?

Einfachauswahl: „1. Bachelorsem.“, „2. Bachelorsem.“, „3. Bachelorsem.“, „weitere Bachelorsem.“, „Master“

 

5

Mein höchster Bildungsabschluss ist bisher …

Einfachauswahl: „kein Abschluss“, „Hauptschulabschluss“, „Realschule (Mittlere Reife)“, „Fachgebundene Hochschulreife“, „Gymnasium (Abitur)“, „Abgeschlossene Ausbildung“, „Meister*in“, „Fachwirt*in“, „Techniker*in“, „Hochschulabschluss (Bachelor, Master, Magister, Diplom, Staatsexamen, Promotion)“

 

6

Für das Studium habe ich meinen Wohnort gewechselt

Einfachauswahl: „ja“, „nein“, „keine der Antworten passt“

 

7

Ich wohne ...

Mehrfachauswahl: „alleine“, „mit Partner*in zusammen“, „mit Kind/ern“, „bei meinen Eltern“, „in einer WG“, „in einem Studierendenwohnheim“, „Sonstiges“

 

8

Ich finanziere mein Studium durch ...

Mehrfachauswahl: „privates Erspartes“, „öffentliche Gelder (BAföG o. ä.)“, „privater Studienkredit“, „einen Nebenjob“, „Vollzeitjob/ Selbstständigkeit“, „meine Eltern“, „ein Stipendium“, „Sonstiges“

 

9

Ich habe an der Orientierungseinheit meines Studiengangs teilgenommen

Einfachauswahl: „ja“, „nein“, „teilweise“

 

10

Ich nutze die Angebote zur Vernetzung der Fachschaftsräte aktiv

Einfachauswahl: „ja“, „nein“, „teilweise“

 

11

Falls nein, warum nicht?

Feldeingabe Text

 

12

Ich habe an dem ELARI-Seminar teilgenommen

Einfachauswahl: „ja“, „nein“, „noch nicht, habe ich aber im nächsten Semester vor“

 

Subjective Happiness Scale (Lyubomirsky/Lepper 1999)

13

Meistens betrachte ich mich selbst als ...

7-Punkt semantisches Differential: „... keinen glücklichen Menschen“ bis „... sehr glücklichen Menschen“

 

14

Verglichen mit meinen Freundinnen und Freunden betrachte ich mich als ...

7-Punkt semantisches Differential: „... weniger glücklich“ bis „... viel glücklicher“

 

15

Manche Menschen sind oft sehr glücklich. Sie freuen sich am Leben, egal was passiert und machen aus allem das Beste. Wie sehr trifft das auch auf Sie zu?

7-Punkt semantisches Differential: „überhaupt nicht“ bis „sehr zutreffend“

 

16

Manche Menschen sind nicht so glücklich. Obwohl sie nicht deprimiert sind, sehen sie nicht so glücklich aus, wie sie sein könnten. Wie sehr trifft das auch auf Sie zu?

7-Punkt semantisches Differential: „überhaupt nicht“ bis „sehr zutreffend“ (invertiert)

 

Fragebogen zu Studienzielen (Bosse et al. 2019)

Bitte geben Sie für die folgenden Studienziele an, wie zufrieden Sie mit der bisherigen Erreichung dieser Ziele sind.

5-Punkt-Likert-Matrix mit Ausschlussoption: „kein wichtiges Studienziel“, „gar nicht zufrieden“, „weniger zufrieden“, „teilweise zufrieden“, „eher zufrieden“, „sehr zufrieden“

 

Persönliche Ziele

 

17

mich persönlich weiterentwickeln

 

18

Fachkompetenzen erwerben bzw. erweitern (z. B. Fachwissen aneignen, Inhalte und Zusammenhänge verstehen, Formeln anwenden)

 

19

meinem Fachinteresse folgen und mich mit meinem Studiengang identifizieren

 

20

soziale Kompetenzen erwerben (z. B. Teamfähigkeit, soziale Umgangsformen)

 

21

mich auf meine berufliche Zukunft vorbereiten

 

22

Methodenkompetenzen erwerben (z. B. wissenschaftliches Arbeiten, Zeitmanagement, Verhalten im Labor)

 

23

selbstbestimmt studieren (z. B. eigene Ziele im Studium entwickeln und verfolgen)

 

Formale Ziele

 

24

einen Studienabschluss vorweisen können

 

25

die formalen Vorgaben einhalten (z. B. Lehrveranstaltungen und Prüfungen im vorgesehenen Semester absolvieren)

 

26

das Studium in der Regelstudienzeit abschließen

 

27

gute Noten bekommen

 

Fragebogen zu Studienanforderungen (Bosse et al. 2019)

 

Schätzen Sie ein, wie leicht bzw. schwer es Ihnen im ersten Studienjahr gefallen ist, mit den folgenden Anforderungen im Studium umzugehen.

5-Punkt-Likert-Matrix mit Ausschlussoption: „sehr schwer“, „eher schwer“, „teils/teils“, „eher leicht“, „sehr leicht“, „trifft für mich/mein Studium nicht zu“

 

Wissenschaftsmodus

 

28

sich die Wissenschaftssprache anzueignen (z. B. für Klausuren und Hausarbeiten)

 

29

sich auf die wissenschaftlichen Herangehensweisen einzustellen (z. B. unterschiedlicher Umgang mit Inhalten in der Schule und Uni)

 

30

wissenschaftliche Arbeitsweise zu erlernen (z. B. wissenschaftliche Texte bearbeiten, eine Fragestellung entwickeln)

 

Studienfach-Interesse und -Anwendungsbezug

31

Studieninhalte mit Berufsvorstellungen verbinden (z. B. Berufsperspektiven entwickeln, berufliche Relevanz der Inhalte erkennen)

 

32

eigene Interessen zu erkennen und die Studiengangswahl zu überprüfen (z. B. die Frage, ob der Studiengang zu einem passt)

 

33

Bezüge zwischen Theorie und Praxis herzustellen (z. B. Anwendungsbeispiele finden)

 

Lernaktivitäten

 

34

zu erkennen, wie man sinnvoll lernt (z. B. die richtigen Methoden wählen)

 

35

Lernaktivitäten zeitlich sinnvoll zu strukturieren (z. B. Zeitpunkt und Dauer des Lernens)

 

36

die Menge an Lernstoff zu bewältigen (z. B. semesterbegleitende Aufgaben oder Lektüren)

 

37

eigene Belastbarkeit einzuschätzen (z. B. Lernumfang, Erholungsbedarf)

 

Leistung und Misserfolg

 

38

mit Prüfungsergebnissen umzugehen (z. B. schlechte Noten)

 

39

mit Leistungsdruck umzugehen (z. B. mit Prüfungsstress oder eigenen Ansprüchen zurechtkommen)

 

40

mit Prüfungsbedingungen zurechtzukommen (z. B. Benotungspraxis, Prüfungsdichte)

 

Kontakt und Kooperation

 

41

mit dem sozialen Klima im Studiengang zurechtzukommen (z. B. Konkurrenz aushalten)

 

42

Teamarbeit zu organisieren (z. B. Lerngruppen finden, in Gruppen zusammenarbeiten)

 

43

Kontakte zu Mitstudierenden zu knüpfen

 

44

im Team zusammenzuarbeiten (z. B. gemeinsam Aufgaben bearbeiten, Referate vorbereiten)

 

Studienorganisation

 

45

mit dem vorhandenen Lehrangebot zurechtzukommen (z. B. ungünstige Termine, eingeschränkte Themenwahl)

 

46

einen eigenen Stundenplan zu erstellen (z. B. interessengeleitet Veranstaltungen wählen, Studienplan bei der Auswahl berücksichtigen)

 

47

passende Informations- und Beratungsangebote zu finden (z. B. Ansprechpersonen finden)

 

48

mit ungünstigen Rahmenbedingungen umzugehen (z. B. Überfüllung, Zugangsbeschränkungen, Ausstattung)

 

Ergänzende Fragen

 

49

Wie schätzen Sie aktuell Ihre soziale Vernetzung im Studium ein?

5-Punkt semantisches Differential: „sehr schlecht“ bis „sehr gut“

 

50

Bitte beschreiben Sie, wie Sie das letzte Semester erlebt haben.

Feldeingabe Text

 

51

Wie haben sich Ihre Ziele durch das letzte Semester verändert?

Feldeingabe Text

 

 

Zitieren des Beitrags

Schurig, V./Kneer, M./Gehle, N./Casper, M. (2021): Erstis ohne Campus. Herausforderungen und Reflexionsanlässe im „Corona-Semester“ von Lehramtsstudierenden in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. In: bwp@ Spezial 18: Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: (Un-)bekannte Wesen? Hrsg. v. Grunau, J./Jenert, T. 1-29. Online: https://www.bwpat.de/spezial18/schurig_etal_spezial18.pdf  (20.05.2021).