bwp@ Spezial PH-AT1 - November 2020

Österreichs Berufsbildung im Fokus der Diversität – Berufspädagogische For­schung an Pädagogischen Hochschulen

Status quo, Herausforderungen und Implikationen

Hrsg.: Karin Heinrichs, Sabine Albert, Johanna Christa, Norbert Jäger & Ramona Uhl

Berufsfindungsprozesse von Jugendlichen an Polytechnischen Schulen

Beitrag von Gernot Dreisiebner, Georg Tafner, Silke Luttenberger, Michaela Stock & Manuela Paechter
Schlüsselwörter: Berufswahl, duales Berufsbildungssystem, rekonstruktive Sozialforschung

Der Beitrag bewegt sich im Kontext der Geschlechtersegregation bei der Wahl des Ausbildungsberufs im dualen Berufsbildungssystem: Während Handwerk und Technik primär männlich dominiert sind, zählen hingegen unter den weiblichen Lehrlingen kaufmännisch-verwaltende Berufe zu den meistgewählten Lehrberufen. Im Zentrum des Beitrags steht die leitende Fragestellung, welche Orientierungsmuster den Berufsfindungsprozessen von Jugendlichen mit geschlechts(un)typischen Berufswünschen zugrunde liegen.[1] Zur Beantwortung der leitenden Fragestellungen erfolgt ein explorativer Zugang über die rekonstruktive Sozialforschung. Narrativ fundierte Einzelinterviews rund sechs Monate nach dem Berufseintritt erlauben einen Einblick in Herausforderungen, mit welchen die Lehrlinge im Berufsfeld konfrontiert werden. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der dokumentarischen Methode. Im Zuge dessen konnten vier Typen von Berufsfindungsprozessen abgeleitet werden. Im befragten Sample waren lediglich Jugendliche vom Typ I (u.a. durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung charakterisiert) in der Lage, ihren geschlechtsuntypischen Berufswunsch zu verwirklichen.

 

[1]    Der vorliegende Beitrag adressiert einen Ausschnitt aus dem Forschungsprojekt Geschlechtsstereotype Berufsentscheidungen bei Jugendlichen, die einen Lehrberuf anstreben: ein individuelles und ein gesellschaftliches Problem (GeBe), welches an der Karl-Franzens-Universität Graz (Institut für Psychologie und Institut für Wirtschaftspädagogik) in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Steiermark (Bundeszentrum für Professionalisierung in der Bildungsforschung) durchgeführt wurde.

Career choice processes of adolescents at prevocational schools

English Abstract

This paper addresses the gender segregation within the career choice processes of adolescents in the dual education system. While craftsmanship and technical trades are dominated by male apprentices, female apprentices gravitate towards careers in retail trade or as office assistants. Out of this issue of gender segregation originates the research question, which frameworks of orientations are underlying the career choice processes of adolescents with gender(un)typical career preferences. Narrative-centered interviews six months after the adolescents have entered the labor market allow for insights into the challenges the apprentices are confronted with. The analysis of the interviews is conducted via the documentary method of reconstructive social research. Within this interpretation, four distinctive types of career choice processes could be derived. The results show that only young adults of type one (characterized by a high amount of self-determination) were able to realize their career choice as planned.

1 Einleitung

Angehenden Lehrlingen[1] steht in Österreich eine Bandbreite von 209 Lehrberufen zur Auswahl (vgl. Verordnung Lehrberufsliste 2019). Hinsichtlich ihrer Berufsentscheidung machen angehende Lehrlinge von diesem Spektrum jedoch nur sehr eingeschränkt Gebrauch und ihre Berufswahlprozesse verlaufen häufig in (geschlechts-)stereotypen Mustern: Rund ein Drittel der insgesamt 73.536 männlichen Lehrlinge entscheidet sich für eine Lehre in Metall-, Elektro- oder KFZ-Technik. Auch über die drei meistgewählten Lehrberufe der männlichen Lehrlinge hinaus zeigen die Lehrberufe in Handwerk und Technik ein primär männlich dominiertes Bild. Unter den 35.575 weiblichen Lehrlingen zählen hingegen Einzelhandel, Bürokauffrau und Friseurin zu den drei meistgewählten Lehrberufen. Rund 40 % aller weiblichen Lehrlinge entscheiden sich für eine Lehre in diesen Bereichen (vgl. WKO 2019).

Auch bei Erweiterung der Perspektive auf die 20 meistgewählten Lehrberufe österreichischer Lehrlinge (welche in Summe immerhin rund zwei Drittel der gesamten Lehrlingspopulation abbilden) zeigt sich ein ähnliches Bild. Abbildung 1 umfasst eine Darstellung der Top-20 Lehrberufe österreichischer Lehrlinge gereiht nach den Geschlechterverhältnissen in den jeweiligen Lehrberufen. Die Geschlechterverhältnisse in den zwanzig häufigsten Lehrberufen liegen hierbei zwischen 0,7 %/99,3 % (weiblich/männlich) für den Lehrberuf Zimmerei und 85,5 %/14,7 % für den Lehrberuf Friseur/in, Perückenmacher/in. Lediglich in wenigen Lehrberufen (z.B. Restaurantfachmann/-frau) scheinen ausgewogenere Geschlechterverhältnisse zu existieren.

Abbildung 1: Geschlechterverteilung innerhalb der 20 häufigsten Lehrberufe (eigene Darstellung, Daten: Dornmayr/Nowak 2019, 156)Abbildung 1: Geschlechterverteilung innerhalb der 20 häufigsten Lehrberufe (eigene Darstellung, Daten: Dornmayr/Nowak 2019, 156)

In der Literatur wird zur Definition geschlechtsstereotyper Berufswahl häufig auf einen Schwellenwert von 30 % zurückgegriffen (vgl. Ertl/Luttenberger/Paechter 2014, 425; Schwiter et al. 2014, 407; Hausmann/Kleinert 2014, 3f.; Matthes/Biersack 2009, 18; Trappe 2006, 60). Entscheiden sich etwa weniger als 30 % der männlichen Lehrlinge für einen Lehrberuf, so gilt die Entscheidung für diesen Lehrberuf für männliche Lehrlinge als ‚geschlechtsuntypisch‘. Deutlich wird in Abbildung 1 unter Bezugnahme auf diesen Grenzwert: Der überwiegende Teil der 20 häufigsten Lehrberufe österreichischer Lehrlinge ist entweder deutlich weiblich oder deutlich männlich dominiert. Insbesondere unter den ‚typisch männlichen‘ Lehrberufen ist die Segregation besonders ausgeprägt: Unter den Top 20 Lehrberufen österreichischer Lehrlinge liegen zwölf ‚typisch männliche‘ Lehrberufe, bei zehn davon liegt der Anteil weiblicher Lehrlinge – teils sogar deutlich – unter zehn Prozent. Derartige Zuschreibungen von ‚typisch männlichen‘ und ‚typisch weiblichen‘ Lehrberufen sind jedoch auch nicht unkritisch zu sehen, denn die fortwährende mediale Präsenz dieser Begrifflichkeiten trägt auch dazu bei, geschlechterstereotype Berufswahlmuster festzuschreiben (vgl. Gildemeister/Robert 2008, 137). Dennoch wird im Rahmen dieses Beitrags zu einer besseren Nachvollziehbarkeit auf die Termini ‚typisch männlicher‘ und ‚typisch weiblicher‘ Lehrberufe zurückgegriffen, um die segregierten Lehrberufe zu bezeichnen.

Bei der Geschlechtersegregation bei der Berufswahl handelt es sich nicht um ein neues Phänomen, vielmehr lässt sich eine entsprechende Auseinandersetzung bereits bei den ersten institutionalisierten Angeboten zur Berufsberatung zeigen (vgl. Dreisiebner/Tafner 2018). Die Relevanz des Forschungsfeldes lässt sich aus vielerlei Perspektiven begründen. Exemplarisch seien an dieser Stelle erhöhte Drop-Out-Raten aus der Lehre für das unterrepräsentierte Geschlecht genannt (vgl. Dornmayr/Nowak 2017, 67). Eine Benachteiligung scheint somit nicht nur bei der Wahl des Lehrberufs zu bestehen, sondern scheint sich auch nach einer erfolgreichen Sicherung einer Lehrstelle im Berufsfeld fortzusetzen.

Das österreichische duale Berufsbildungssystem (Lehre) mit seiner Kombination aus betrieblichen und schulischen Ausbildungselementen baut auf die vorangegangene Absolvierung einer neunjährigen Schulbildung auf. Davon entfallen acht Jahre auf die Primarstufe (Volksschule) und Sekundarstufe I. Ab der Sekundarstufe II (d.h. ab der neunten Schulstufe) findet eine deutliche Ausdifferenzierung in ein breites Spektrum an berufsbildenden und allgemeinbildenden Bildungswegen statt. Die Polytechnische Schule stellt einen einjährigen, in der neunten Schulstufe verankerten, Schultyp dar, welcher sich primär an angehende Lehrlinge zur Absolvierung ihres neunten Schuljahres und zur Vorbereitung bzw. Orientierung für eine Lehre richtet. Auch wenn sich in den vergangenen zehn Jahren der Anteil der Schüler/innen der Polytechnischen Schule an der gesamten 9. Schulstufe kontinuierlich reduziert hat, stellt die Polytechnische Schule nach wie vor den primären Schultyp für angehende Lehrlinge dar: Rund ein Drittel aller Lehrlinge hat vor Eintritt in das duale System eine Polytechnische Schule besucht (vgl. Dornmayr/Nowak 2019, 104; 183). Sollen Berufsfindungsprozesse von angehenden Lehrlingen untersucht werden, so stellt die Polytechnische Schule als Schultyp den besten Ansatzpunkt hierfür dar.

In dem beschriebenen Kontext steht das Forschungsprojekt Geschlechtsstereotype Berufsentscheidungen bei Jugendlichen, die einen Lehrberuf anstreben: ein individuelles und ein gesellschaftliches Problem (vgl. Paechter et al. 2017; Dreisiebner et al. 2017). Im Fokus des Projekts stehen die Berufsfindungsprozesse angehender Lehrlinge (hier: repräsentiert durch Schüler/innen Polytechnischer Schulen), welche in einem Längsschnitt-Design zu drei Erhebungszeitpunkten befragt wurden. Beginnend in der Mitte des Schuljahres (t1, oftmals vor Bewerbung für eine Lehrstelle) fand eine initiale Fragebogenerhebung an den Schulen statt, welche am Ende des Schuljahres (t2, meist nach Abschluss der Bewerbungen) um eine weitere schriftliche Erhebungswelle wie auch um Gruppendiskussionen mit den angehenden Lehrlingen ergänzt wurde. Rund sechs Monate nach dem Eintritt in den Lehrberuf (t3) fand schließlich die dritte, finale Erhebungswelle der Fragebogenerhebung statt, welche durch Einzelinterviews flankiert wurde.

Der hier vorgestellte Beitrag fokussiert auf den qualitativen Part des Forschungsprojektes – insbesondere mit Fokus auf die Ergebnisse der Einzelinterviews – und basiert auf der gleichnamigen Dissertation (vgl. Dreisiebner 2019). Im Zentrum des Beitrags steht die leitende Fragestellung, welche Orientierungsmuster den Berufsfindungsprozessen von Jugendlichen mit geschlechts(un)typischen Berufswünschen zugrunde liegen. Zur Beantwortung der leitenden Fragestellungen erfolgt ein explorativer Zugang über die rekonstruktive Sozialforschung in einem zweistufigen Vorgehen: (1) Unmittelbar vor deren Berufseintritt wurden Gruppendiskussionen mit Jugendlichen an Polytechnischen Schulen geführt. (2) Ergänzende narrativ fundierte Einzelinterviews rund sechs Monate nach dem Berufseintritt erlauben darüber hinaus einen Einblick in Herausforderungen, mit welchen die Lehrlinge im Berufsfeld konfrontiert werden. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2008; Nohl 2012). Einer einleitenden Darstellung der Problemstellung und deren wissenschaftlichen Relevanz folgend werden in Kapitel 2 ausgewählte Erklärungsansätze zur Berufswahl wie auch zur Geschlechtersegregation bei der Berufswahl beleuchtet. In Kapitel 3 erfolgt die Darlegung des Forschungsdesigns, welche in den Ergebnissen (Kapitel 4) und einer abschließenden Darstellung (Kapitel 5) mündet.

2 Erklärungsansätze zur Berufsfindung

Ein richtungsweisender Erklärungsansatz zur Berufsfindung ist die Theory of Vocational Choice and Adjustment nach Holland (1973), gemäß welcher die Kongruenz zwischen Person und Umwelt ein zentrales Konzept darstellt. Eine gute Passung zwischen der eigenen Orientierung (d.h. der eigenen Interessen) und dem Beruf (d.h. des dafür notwendigen Interessenspektrums) resultiert demzufolge etwa in stabileren Karriereverläufen oder einer höheren Arbeitszufriedenheit. Die individuelle Orientierung kann mittels standardisierter Testverfahren erhoben werden (z.B. Holland 1973, 119ff.) und bildet ein bis heute populäres Instrument der Berufsberatung, z.B. im Allgemeinen Interessen-Struktur-Test (AIST) nach Bergmann/Eder (2005). Sind es bei Holland (1973) primär die beruflichen Interessen, welche die Berufswahl determinieren, so stehen nach den sozial-kognitiven Theorien die Selbstwirksamkeitserwartungen (‚Bin ich in der Lage, eine Tätigkeit erfolgreich durchzuführen?‘) und Ergebniserwartungen (‚In welchem Ergebnis wird meine Handlung resultieren?‘) im Fokus. In der Social Cognitive Theory gewinnt demzufolge das Beobachtungslernen (vgl. Bandura 1986, 47ff.) an Bedeutung: Individuen lernen am Modell anderer Karrierebiografien – am Modell von Eltern, Peers und Vorbildern – wie Berufswahl ‚abzulaufen hat‘. Mit der Social Cognitive Career Theory wird die Dyade aus Selbstwirksamkeitserwartungen und Ergebniserwartungen noch um die persönlichen Ziele ergänzt (Lent/Brown/Hackett 1994, 82ff.). Auch gemäß der Theory of Circumscription and Compromise (vgl. Gottfredson 1981; Gottfredson 2002) stellt die Berufswahl einen zweistufigen Prozess dar. Zunächst kommt es zu einer ersten Eingrenzung des Aspirationsfeldes, wobei auch das mit einem Beruf verbundene Prestige und die Zuschreibung als maskuliner oder femininer Beruf eine Rolle spielt. Soziale Konventionen bezüglich des Geschlechts sind hierbei besonders schwer zu durchbrechen (vgl. Gottfredson 1981, 572).

Als Quintessenz der einzelnen Erklärungsansätze lässt sich ableiten: Bei der Berufswahl handelt es sich um einen (mehrstufigen) Prozess und nicht um eine statische Entscheidung, wie es bereits Ginzberg et al. (1951, 186ff.) in ihrer Stufen- und Phasentheorie zum Ausdruck bringen. Fest steht auch, dass die Berufswahl sich – mangels vollständiger Information – nicht auf eine utilitaristische Perspektive, wie bei Ziller (1957) dargestellt, reduzieren lässt, bei welcher erwartete Gewinne, Eintrittswahrscheinlichkeiten und Arbeitseinsätze gegeneinander aufgewogen werden. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, wie beispielsweise Interessen (vgl. Holland 1973), Selbstwirksamkeitserwartungen (vgl. u.a. Lent/Brown/Hackett 1994) oder Geschlechterzuschreibungen im Hinblick auf Berufe (vgl. u.a. Gottfredson 2002). Diese Aufzählung von Faktoren ist nicht taxativer Natur und hat hier eher den illustrativen Charakter einer Einschränkung auf populäre Ansätze, denn eine vollständige Darstellung würde den Umfang sprengen. Mosberger/Schneeweiß/Steiner (2012, 6ff.) identifizieren etwa 40 wesentliche Einflussfaktoren auf die Berufsfindung basierend auf einer Darstellung 16 ausgewählter Erklärungsansätze.

Für die eingangs im Beitrag beschriebene Geschlechtersegregation bei der Lehrberufswahl lässt sich das Vorhandensein von Geschlechtsstereotypen als mögliche Ursache verorten (vgl. Dreisiebner 2019, 115). Stereotype können hierbei auf zwei verschiedene Weisen auf den Berufswahlprozess wirken: Einerseits als internalisierte Stereotype (d.h. eine Person ist der Meinung, ungeeignet für einen Beruf zu sein, weil er/sie männlich oder weiblich ist) oder aber auch als externale Stereotype. Im letzteren Fall glauben die handelnden Personen zwar nicht, dass ein Stereotyp auf sie persönlich zutrifft, aber sie sind sich der Existenz des Stereotyps bewusst und werden dadurch negativ in ihren Handlungen beeinflusst (vgl. Ertl/Luttenberger/Paechter 2014, 426).

Insbesondere negative, inakkurate Stereotype sind Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung (Jussim/McCauley/Lee 1995, 17; Thiele 2015, 58). Allein die Angst, ein negatives Vorurteil gegenüber der eigenen sozialen Gruppe zu bestätigen – ein „stereotype threat“ (Steele/Aronson 1995, 797) – kann das eigene Handeln negativ beeinflussen. Stereotype können somit eine „self-fulfilling prophecy“ (Rosenthal/Jacobson 1968, 20) auslösen. Aufgrund dieser Tatsache ist der Wahrheitsgehalt von Stereotypen auch kaum messbar – denn bereits durch ihre bloße Existenz zeigen Stereotype Wirkung (Thiele 2015, 57).

Stereotype – als ein möglicher Auslöser der Geschlechtersegregation bei der Berufswahl – sind somit impliziten Charakters. Den handelnden Personen ist gar nicht zwangsläufig bewusst, dass sie von Stereotypen geleitet handeln. In diesem Kontext ergibt sich die Frage, wie etwas derartig Implizites aus Erzählungen und Beschreibungen zu Berufsfindungsprozessen isoliert werden kann. Im Rahmen dieses Beitrags erfolgt hierfür ein Zugang über die dokumentarische Methode der rekonstruktiven Sozialforschung.

3 Methodik

Bei der Berufsfindung handelt es sich nicht um ‚eine‘ große Entscheidung (vgl. Ebner 1992, 23) – vielmehr werden Berufsentscheidungen „von einer ganzen Reihe institutionalisierter ‚Bremswege‘, ‚Fangriemen‘, ‚Etappenziele‘ und ‚Basislager‘ flankiert [...], die eine im Grunde vielleicht ganz einfach und intuitiv zu treffende Entscheidung zu einer komplizierten Kette lose aufeinander verweisender Teilentscheidungen werden lassen“ (Dimbath 2012, 306). Daraus resultiert das Ansinnen, die individuellen Berufsfindungsbiografien der Jugendlichen über einen längeren Zeitraum hinweg mit der Datenerhebung zu begleiten. Konkret fand die Datenerhebung zu drei Erhebungszeitpunkten statt, beginnend von der Mitte des Schuljahres bis hin zu einige Monate nach dessen Ende (siehe auch Abbildung 2):[2]

  1. Erhebungszeitpunkt t1. Im Zuge einer Fragebogenerhebung an Polytechnischen Schulen (576 Schüler/innen, vgl. u.a. Paechter et al. 2017) wurden u.a. die Berufswünsche der beteiligten Schüler/innen erhoben. Diese Nennungen bildeten den Ausgangspunkt für das Sampling für die folgenden Erhebungszeitpunkte. Die Befragung fand in der Mitte des Schuljahres statt, wobei zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Lernenden eine Lehrstelle vorweisen konnten.
  2. Erhebungszeitpunkt t2. Am Ende des Schuljahres wurden an ausgewählten Polytechnischen Schulen neun Gruppendiskussionen mit insgesamt 31 Schüler/inne/n geführt.
  3. Erhebungszeitpunkt t3. Ergänzend wurden narrativ-fundierte Einzelinterviews mit elf Personen aus dem Sample der Gruppendiskussionen geführt, welche rund sechs Monate nach dem Abschluss des neunten Schuljahres und damit rund sechs Monate nach dem potenziellen Beginn der Lehre stattfanden (wobei für einige Befragte ihr Bildungsweg auch zunächst in eine berufsbildende Vollzeitschule geführt hat).

Abbildung 2: Erhebungsdesign (Dreisiebner 2019, 39)Abbildung 2: Erhebungsdesign (Dreisiebner 2019, 39)

Die in dem vorliegenden Beitrag präsentierten Ergebnisse beziehen sich primär auf die Auswertung der Einzelinterviews (t3). Anhand der Gruppendiskussionen war es jedoch möglich, erste Gespräche mit den Jugendlichen in einem ihnen vertrauten institutionellen Rahmen (d.h. direkt an der Polytechnischen Schule) zu führen, wodurch eine Basis für die spätere Teilnahme an den Einzelinterviews geschaffen wurde.

3.1 Zielgruppe & Sample

Sämtliche befragte Jugendlichen besuchten zum Zeitpunkt t1 eine steirische Polytechnische Schule. Im Regelfall befanden sie sich in ihrem neunten Schuljahr und waren zwischen 14 und 15 Jahre alt. Eine Einschränkung auf die Polytechnische Schule erfolgte aus zwei Gründen: (1) Im Zuge ihres neunten Schuljahres werden die Schüler/innen zwangsläufig mit der Notwendigkeit der Berufswahl konfrontiert. Am Ende des Schuljahres folgt kein weiteres Schuljahr, sondern der Wechsel in einen Lehrberuf. (2) Die Schüler/innen sind sich der in (1) angeführten Tatsache bewusst und entscheiden sich für die Polytechnische Schule aus dem Motiv heraus, eine Lehre zu beginnen. Es war somit nicht zu erwarten, dass sich unter den Befragten überproportional viele Personen befinden, welche einen weiteren Schulbesuch anstreben.[3] Im Stadt-Land-Vergleich nimmt die Polytechnische Schule in ruralen Bereichen eine ausgeprägtere Rolle ein, fallweise besucht annähernd ein Drittel aller Jugendlichen in der 9. Schulstufe eine Polytechnische Schule, wohingegen der Anteil in urbanen Regionen auch deutlich unter 5 % liegen kann (vgl. Schwabe & Gumpoldsberger 2008, 1129; Dreisiebner 2019, 60). Im Rahmen der Studie erfolgte eine Einschränkung auf den ländlichen Raum und damit auf jene Schulen, in welchen die Polytechnische Schule eine wesentliche Rolle in der regionalen Bildungsstruktur spielt.

In Tabelle 1 finden sich die Berufswünsche der Befragten (t1, t2) sowie die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit zum Zeitpunkt der Interviews (t3) dargestellt. Obwohl insbesondere bei den weiblichen Befragten zu t1 Personen mit geschlechtsuntypischen Berufswünschen dominieren, stellen sie schon zum Zeitpunkt der Gruppendiskussionen (t2) eine Minderheit dar. Dies kann auch als möglicher Indikator für implizite Hindernisse gesehen werden, mit welchen die Jugendlichen im Zuge ihrer Berufswahl konfrontiert werden. Während es sich zum Zeitpunkt t1 noch primär um Berufswünsche handelt, haben sich die Jugendlichen zu t2 bereits für Lehrstellen beworben, Praktika absolviert und einen besseren Einblick in die angestrebten Berufe erhalten.

Tabelle 1:     Berufswünsche und ausgeübte Lehrberufe (t1, t2, t3)

Abbildung 2: Erhebungsdesign (Dreisiebner 2019, 39)

Den Einstieg in die Interviews bildet stets eine retrospektive Rekonstruktion der Berufsfindung (verkürzt: ‚Erzähle, wie du in deinem heutigen Lehrberuf gelandet bist!‘). Die Dauer der einzelnen Interviews schwankt zwischen rund 15 Minuten (Lehrstellensuchende 4w) und rund 70 Minuten (Bürokaufmann 1m).

3.2 Auswertung nach der dokumentarischen Methode

Die dokumentarische Methode der rekonstruktiven Sozialforschung (Bohnsack 2014; Nohl 2012) bildet einen möglichen Zugang zur Ebene des impliziten, handlungsleitenden Wissens – also unmittelbar zu jener Ebene, auf welcher auch Stereotypen angesiedelt sind (vgl. zum Forschungsdesign auch Tafner et al. 2018). Sie fußt in der Wissenssoziologie Karl Mannheims (1964), gemäß welcher zwischen mehreren Ebenen des Sinngehalts von Botschaften differenziert wird. Der objektive Sinngehalt gibt „die allgemeine Bedeutung eines Textinhalts oder einer Handlung“ (Nohl 2012, 2) wieder. Der dokumentarische Sinn ist hingegen „anhand des Herstellungsprozesseses zu rekonstruieren“ (Nohl 2012, 4). Die dokumentarische Methode bietet somit eine Möglichkeit des Zugriffs auf das konjunktive Wissen der Befragten. Dieses handlungsleitende Wissen ist den Befragten nicht zwangsläufig bewusst bzw. kann von diesen nicht notwendigerweise expliziert werden. Treffend ausgedrückt: „Aus der Perspektive der dokumentarischen Methode wissen die Erforschten insofern oft gar nicht, wie viel sie handlungspraktisch wissen“ (Schäffer 2012, 198). Dieses konjunktiv nicht zugängliche Wissen kann unter dem Begriff des Orientierungsrahmens (Bohnsack 2012, 122) subsumiert werden, der durch praktische Handeln erworben wird.

Die Auswertung der Interviews erfolgte in einem Dreischritt bestehend aus (1) formulierender Interpretation, (2) reflektierender Interpretation und (3) Typenbildung: (1) Im Zuge einer ersten formulierenden Grobinterpretation wurden zunächst thematische Verläufe der Interviews angefertigt. Sämtliche Interviews starten mit einer retrospektiven Begründung der Schul-/ bzw. Berufsentscheidung, gefolgt von Themen wie Erfahrungen unmittelbar nach dem Berufseintritt, typischer Arbeitstag oder Zukunftsvorstellungen. Eine darauffolgende formulierende Feininterpretation dient der Identifikation von Unterthemen (z.B. Bildung & Lernen), welche im Kontext der Oberthemen auftreten können. Die Interpretation bewegt sich noch auf der Ebene des objektiven Sinngehalts (2) Die erste Stufe der reflektierenden Interpretation stellt eine formale Interpretation und Textsortentrennung dar, welche der Identifikation von Erzählungen und Beschreibungen als direkter Zugang zum konjunktiven Wissen (Nohl 2012, 42f.) der Befragten dient. Hierauf folgt eine semantische Interpretation und komparative Sequenzanalyse, bei der implizite Regelhaftigkeiten innerhalb einer Handlungssequenz identifiziert werden. (3) Die erlangten Einsichten werden schließlich in einem finalen Schritt zu einer sinn- bzw. soziogenetischen Typenbildung verdichtet.

Die Darstellung der Ergebnisse im nachfolgenden Kapitel 4 bezieht sich unmittelbar auf die Resultate des finalen Interpretationsschrittes (d.h. der Typenbildung). Eine exemplarische Durchführung der einzelnen Interpretationsschritte findet sich bei Dreisiebner (2019, 200ff.).

4 Ergebnisse

Im Zuge der Auswertung der Einzelinterviews nach der dokumentarischen Methode konnten vier Typen von Berufsfindungsprozessen identifiziert werden. Diese unterscheiden sich zunächst hinsichtlich der zugrundeliegenden Berufswerte, d.h. ob Interesse an den Tätigkeiten oder monetäre Faktoren wie die Entlohnung die Erzählungen und Beschreibungen der Jugendlichen dominieren. Gleichzeitig treten auch Unterschiede zu Tage, ob die Jugendlichen ihren Berufswahlprozess als selbstbestimmt oder fremdbestimmt (d.h. z.B. durch andere Personen wie Eltern vorherbestimmt) wahrnehmen. Die letzte Dimension der handlungsleitenden Intention bezieht sich hingegen darauf, ob die Jugendlichen sich im jeweiligen Beruf ‚angekommen‘ fühlen oder eventuell bereits schon nach Weiterbildung bzw. Höherqualifizierung streben. Die drei zentralen Dimensionen (1) Berufswerte, (2) Selbst-bzw. Fremdbestimmung und (3) handlungsleitende Intention, welche sich unmittelbar aus dem Material heraus ergeben, können wie folgt charakterisiert werden:

  1. Berufswerte. Unter den Berufswerten treten zunächst extrinsiche Berufswerte Diese sind durch das Streben nach beruflichem bzw. sozialem Status gekennzeichnet, oft gepaart mit monetären Aspekten und utilitaristischen Nutzenüberlegungen (z.B. die Lehre soll sich auch finanziell ‚auszahlen‘). Bei intrinsischen Berufswerten steht hingegen die ausgeübte Tätigkeit selbst im Fokus (z.B. die Tätigkeit soll ‚Spaß machen‘, selbstständiges Arbeiten erlauben). Ebenfalls treten sozial/altruistische Berufswerte auf, etwa dokumentiert in dem Bedürfnis, anderen Menschen im Zuge der Berufsausübung zu helfen. Die pragmatische Orientierung ist hingegen primär dadurch gekennzeichnet, dass beim Auftreten von Hindernissen diese nicht adressiert werden, sondern eine unmittelbare Änderung des Berufswunsches erfolgt.
  2. Selbst-/Fremdbestimmung. Die Dimension der Selbstbestimmung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Initiative bei der Konfrontation mit Hemmnissen stets vom Individuum selbst ausgeht (z.B. weitere Bewerbungen als Reaktion auf eine Absage). Bezugspersonen (wie z.B. Eltern) treten als Moderator/inn/en auf, welche zwar Handlungsspielräume aufzeigen (dürfen), diese aber nicht vorgeben. In der Dimension der Fremdbestimmung kommt es hingegen bei Diskontinuitäten zu Schuldzuweisungen (z.B. wird eine Lehrkraft für eine schlechte Note verantwortlich gemacht anstatt die eigene mangelnde Leistung), die Initiative kommt hierbei von außen (z.B. Anregung der Eltern, eine weiterführende Schule zu besuchen).
  3. Handlungsleitende Intention. In den Interviews treten drei handlungsleitende Dimensionen auf. Suchen/Ausprobieren dokumentiert sich in noch nicht abgeschlossenen Berufsfindungsprozessen (z.B. Besuch einer weiterführenden Schule in Ermangelung einer Lehrstelle). Fallweise hegen die Befragten nach Erhalt ihrer Lehrstelle keine weiteren Aufstiegsambitionen (Dimension Angekommen). In vier Interviews zeigt sich jedoch auch ein Streben nach Ausbildung/Höherqualifizierung, welches sich u.a. in Ausführungen zur Weiterbildung dokumentiert.

In Abbildung 3 finden die unterschiedlichen Typen von Berufsfindungsbiografien Darstellung. Die Dimension der handlungsleitenden Intention findet sich auf der x-Achse, jener der Selbst- bzw. Fremdbestimmung auf der y-Achse. Die farbliche Schattierung der Kreise in Abbildung 3 repräsentiert die jeweiligen Berufswerte. Es ergeben sich somit vier Typen von Berufsfindungsprozessen, die in sich geschlossen homogen, untereinander betrachtet jedoch überaus heterogen sind.

Abbildung 3: Typen der Berufsfindungsbiografien (in Anlehnung an Dreisiebner 2019, 261)Abbildung 3: Typen der Berufsfindungsbiografien (in Anlehnung an Dreisiebner 2019, 261)

Berufsfindungsprozesse vom Typ I sind determiniert durch einen (eher) selbstbestimmten Berufsfindungswahlprozess. Die Berufswerte sind primär extrinsischer Natur, die Jugendlichen streben nach Ausbildung/Höherqualifizierung. Bei den nach Typ II eingeordneten Berufswahlprozessen stehen ebenfalls extrinische Berufswerte im Fokus. Im Gegensatz zu Typ I laufen die Berufsfindungsprozesse jedoch im Modus der Fremdbestimmung ab (z.B. werden Eltern oder Lehrkräfte als verantwortlich für den eigenen Berufswahlprozess gesehen und die eigene Verantwortung negiert). Die durch Pragmatismus determinierten Berufsfindungsprozesse sind in Typ III vereint. Sämtliche Jugendlichen vom Typ III berichten im Modus der Fremdbestimmung über ihren Berufsfindungsprozess, überwiegend haben sie die Phase des Suchens bzw. Ausprobierens auch noch nicht abgeschlossen. Typ IV umfasst lediglich die Lehrstellensuchende 6w. Insbesondere aufgrund des Kontrasts zu den Berufswerten von Typ III hat sich der von sozial-altruisitschen Berufswerten dominierte Berufsfindungsprozess von Lehrstellensuchender 6w als eigener Typ herauskristallisiert.

In Tabelle 2 finden sich die Typen in Relation zu den individuellen Berufswünschen der befragten Jugendlichen. Deutlich wird eine Diskrepanz zwischen den einzelnen Typen: Während es den Typ I zuzurechnenden Jugendlichen gelang, ihre geschlechtsuntypischen Berufswünsche zu verwirklichen, so war dies bei den übrigen Jugendlichen nicht der Fall.

Tabelle 2:     Berufswünsche bzw. ausgeübte Lehrberufe innerhalb der Typen

Abbildung 3: Typen der Berufsfindungsbiografien (in Anlehnung an Dreisiebner 2019, 261)

Ein möglicher Erklärungsansatz für die Dominanz der Dimension ‚Selbstbestimmung‘ bei Jugendlichen, die ihre geschlechtsuntypischen Berufswünsche erfolgreich verwirklichen konnten, liegt in jenen (impliziten) Hindernissen begründet, mit welchen Jugendliche mit geschlechtsuntypischen Berufswünschen konfrontiert werden. Offensichtlich waren nur jene Jugendlichen in der Lage, diese Hindernisse zu bewältigen, welche über ein Kompetenzspektrum verfügen, welches im Rahmen der vorgestellten Studie synonym als Selbstbestimmung bezeichnet wurde (siehe ausführlich Dreisiebner 2019, 244ff.).

5 Abschließende Darstellung

Im Rahmen der hier vorgestellten Studie ist es gelungen, anhand eines qualitativ-rekonstruktiven Forschungsdesigns vier Typen von Berufsfindungsprozessen angehender Lehrlinge zu identifizieren. Auch wenn sich anhand des – einer qualitativen Studie entsprechend – kleinen Samples keine repräsentativen Schlüsse für die Grundgesamtheit ziehen lassen, so finden sich in den Ergebnissen doch Parallelen zum aktuellen forschungsliterarischen Diskurs zum Einfluss von Geschlechtsstereotypen auf die Berufswahl. So scheint sich die Humankapitaltheorie zu bestätigen, gemäß welcher bei den männlichen Befragten primär extrinsische Berufswerte zu erwarten wären (vgl. Busch 2013, 150). Die von Pragmatismus geprägten Berufsfindungsprozesse, bei welchen tradierten Rollenvorstellungen der Vorzug vor eigenen Interessen gegeben wird, finden sich wiederum auch in der Studie von Lentner (2017, 166) wieder.

Die praktischen Implikationen dieser Ergebnisse sind insbesondere in Bezug auf Individualisierung gegeben. Die unterschiedlichen Typen bedürfen individueller Förderung bzw. äußern im Zuge der Interviews auch das Bedürfnis nach unterschiedlichen Fördermaßnahmen (von umfassenderen Praktika bis hin zu mehr Informationen über Berufe und Berufsfelder). Die Ergebnisse des qualitativen Parts des Projekts GeBe sind somit auch als Plädoyer für eine individualisierte Berufsberatung und Förderung bei der Berufsfindung zu verstehen. Luttenberger/Ertl/Paechter (2016, 667f.) schlagen in diesem Kontext zum Aufbrechen geschlechtsstereotyper Berufswahlmuster etwa die folgenden Maßnahmen vor:

  • Ermöglichung von Lernerfahrungen (zum Aufbau von positiven Selbstwirksamkeitserwartungen und zur Unterstützung der Entwicklung von Interesse),
  • Interesse wecken und reflektieren (um den im Berufswahlprozess stehenden Jugendlichen eine bessere Selbsteinschätzung ihres Interessenspektrums zu ermöglichen) sowie
  • Zurverfügungstellung von Informationen über Berufe bzw. Berufsfelder (um Bewusstsein für das volle Spektrum an beruflichen Möglichkeiten zu schaffen).

Eine Limitation, der im Rahmen des gegenständlichen Beitrags thematisierten Ergebnisse ist unmittelbar dem Forschungsdesign geschuldet, welches auf einer Typenbildung nach Abschluss des Berufsfindungsprozesses beruht und aktuell noch keinen Ansatzpunkt zu Identifikation unterschiedlicher Typen bereits zu t1 liefert. Die hier vorgestellte Typenbildung ergibt sich erst aus einer Retrospektive der Lehrlinge auf ihren Berufsfindungsprozess. Gleichwohl bereits aus dem bloßen Vorhandensein der Typen praktische Implikationen für die schulische Berufsorientierung resultieren, wäre es optimal, ‚Risikogruppen‘ im Berufswahlprozess bereits im Vorfeld – und nicht erst nach Abschluss der Polytechnischen Schule – identifizieren zu können.

Die individuellen Berufsfindungsprozesse der Schülerinnen und Schüler der Polytechnischen Schulen zeigen zudem deutlich, dass bereits während des letzten Schuljahres Hemmnisse auftreten, welche zu einer Abkehr von geschlechtsuntypischen Berufswünschen führen. Immerhin fand – zumindest im betrachteten Sample der Einzelinterviews – eine Abkehr von einem geschlechtsuntypischen Berufswunsch nicht erst beim Eintritt in das Berufsfeld, sondern schon während des Schuljahres statt. Möglicherweise ließe sich diese Entwicklung zumindest ansatzweise im Zuge einer individualisierten Förderung oder Berufsberatung kompensieren. Ein wesentliches Forschungsdesiderat ist somit in der frühzeitigen Identifikation von Risikogruppen zu verorten, um einer frühen Abkehr von geschlechtsuntypischen Berufswünschen entgegenwirken zu können.

Literatur

Bandura, A. (1986): Social foundations of thought and action. A social cognitive theory. Englewood Cliffs, N. J.

Bergmann, C./Eder, F. (2005): Allgemeiner Interessen-Struktur-Test (AIST-R) mit Umwelt-Struktur-Test (UST-R). Göttingen.

Bohnsack, R. (2012): Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung. In: Schittenhelm, K. (Hrsg.): Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Grundlagen, Perspektiven, Methoden. Wiesbaden, 119-153.

Bohnsack, R. (2014): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen.

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[1]    Anders als in Deutschland werden in Österreich die Lernenden im dualen Berufsbildungssystem als ‚Lehrlinge‘ (anstatt ‚Auszubildende‘) bezeichnet.

[2]    Das hier dargestellte Forschungsdesign bezieht sich lediglich auf den qualitativen Part der Mixed-Methods-Studie und abstrahiert den quantitativen Part der Erhebung, im Rahmen dessen zu allen drei Erhebungszeitpunkten Fragebogenerhebungen unter den Jugendlichen stattfanden.

[3]    Die Ergebnisse des letzten Erhebungszeitpunktes (Tabelle 1) zeigen jedoch, dass sich diese Erwartungen nur eingeschränkt erfüllt haben und von elf Befragten immerhin drei einen vollzeitschulischen Bildungsweg beschreiten. Dennoch entspricht dies einer überaus hohen Übertrittquote in einen Lehrberuf, wie sie in keinem anderen Schultyp erreicht wird.

Zitieren des Beitrags

Dreisiebner, G./Tafner, G./Luttenberger, S./Stock, M./Paechter M. (2020): Berufsfindungsprozesse von Jugendlichen an Polytechnischen Schulen. In: bwp@ Spezial PH-AT1: Österreichs Berufsbildung im Fokus der Diversität – Berufspädagogische Forschung an Pädagogischen Hochschulen – Status quo, Herausforderungen und Implikationen, hrsg. v. Heinrichs, K./Albert, S./Christa, J./Jäger, N./Uhl, R., 1-18. Online: https://www.bwpat.de/spezial-ph-at1/dreisiebner_etal_bwpat-ph-at1.pdf (18.11.2020).