bwp@ 35 - Dezember 2018

Ökonomisierung in der Bildung und ökonomische Bildung

Hrsg.: Karin Büchter, Tade Tramm & Jens Klusmeyer

Reflexive Wirtschaftspädagogik und sozioökonomische Didaktik. Basale Grundlagen und ein Unterrichtsdesign in Diskussion

Beitrag von Georg Tafner
Schlüsselwörter: sozioökonomische Bildung, reflexive Wirtschaftspädagogik, Rad der sozioökonomischen Bildung, Effizienz, Verantwortung, Sinn

Vor dem Hintergrund einer ökonomisierten Gesellschaft wird lebensweltlich und wissenschaftlich heftig über die „richtige“ allgemeine ökonomische Bildung diskutiert, welche zum nicht trivialen Kern des Ökonomischen führt: Was ist Wirtschaft/en phänomenologisch und wissenschaftlich betrachtet überhaupt? Können wir mit einem pädagogisch-didaktischen Anspruch behaupten, dass „Effizienz […] für den Ökonomen der allein gültige Maßstab zur Beurteilung betrieblicher Handlungen ist“? Oder dass „für den nüchternen Ökonomen [...] die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse Dritter Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung“ ist? (Wöhe/Döring 2013, 6, 13)

Mit dem Rad der sozioökonomischen Bildung wird ein didaktisches Instrument einer reflexiven Wirtschaftspädagogik vorgestellt, das von vier Prämissen ausgeht: 1) Mensch und Organisationen sind in Kultur und Gesellschaft eingebettet. 2) Der Mensch ist untrennbar Individuum und soziales Wesen. 3) Die Trennung von Ökonomie und Ökonomik ist die Crux der ökonomischen Bildung. 4) Egoistische Zweckrationalität wird als normatives Kriterium ökonomischer Bildung zurückgewiesen. 

Auf dieser Basis wurde eine Lehrveranstaltung designt, die an den Universitäten Paderborn, HU Berlin und Universität Graz zur Anwendung kam. Quantitative und qualitative Erhebungen zeigen, wie der ökonomische Mainstream das Bild der Studierenden beherrscht und zu Widersprüchlichkeiten führt. Ein soziökonomischer Zugang kann Reflexionen auslösen, die Pluralität von Ökonomie und Ökonomik bewusstmachen und zu neuen Einsichten abseits der ausgetretenen Denkpfade führen.

Are Only Egoists Economists? A Socio-Economic Answer in the Sense of Reflexive Business Education

English Abstract

Against the backdrop of an economised society, there are heated discussions, both in daily life and in the scientific world, about the “correct” form of general economic education, which leads to the non-trivial core of economics: What, in a phenomenological and a scientific sense, is economy/economic activity anyway? Can we make the pedagogic-didactic claim that “efficiency” [...] is the only valid measure for an economist to assess business activity”? Or that “for a rational economist, [...] satisfying the emotional needs of others is a means to an end for maximising profits”? (Wöhe/Döring 2013, 6, 13).

This paper presents the “Wheel of Socio-Economic Education” as a didactic instrument of reflexive business education that is based on four premises: 1) Humans and organisations are embedded in culture and society. 2) Humans are both individuals and social beings at the same time. 3) The separation of economy and economics is the crux of eco­nomic education. 4) Egoistical means-end rationality is rejected as a normative criterion of economic education.

A course was designed on the basis of these premises and held at Paderborn University, the Humboldt University of Berlin and the University of Graz. Quantitative and qualitative surveys show that the economic mainstream dominates students’ views and leads to inconsistencies. A socio-economic approach may trigger reflections, make people aware of the plurality of economy and economics and lead to new insights beyond the established ways of thinking.

1 Ökonomische Bildung in einer ökonomisierten Welt

Wir leben in einer ökonomisierten Welt, die durch Zweckrationalisierung, Individualisierung, Quantifizierung, Ressourcenoptimierung und Beschleunigung gekennzeichnet ist (vgl. Meyer 2005; Rosa 2016; Tafner 2015a). Gleichzeitig können wirtschaftliche Paradoxien beobachtet werden: Einerseits hat der Wohlstand in den letzten sechs Jahrzehnten enorm zugenommen und andererseits leben nach wie vor Millionen Menschen global in erbärmlicher Armut. Der Erschließung immer größerer materieller Möglichkeiten stehen die Klimaerwärmung, die Übersäuerung der Meere und der Verbrauch von Ressourcen gegenüber (vgl. Raworth 2018, 13f.). Wir beobachten Wirtschaftsverherrlichung und Wirtschaftsablehnung, wirtschaftliches Expertentum und ökonomisches Unwissen (vgl. Dubs 2009, 11; Tafner 2017a, 185). Die Einen sehen in der materiellen Ungleichheit einen notwendigen Leistungsanreiz und die Anderen eine gesellschaftliche Gefahr. Sowohl wissenschaftlich als auch lebensweltlich existieren unterschiedliche Bilder über Wirtschaft und Wirtschaften. Die Wirtschaftswissenschaften sind darüber hinaus wie kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin unter Kritik geraten (vgl. Reardon 2017).[1]  Vier Reaktionen darauf sind möglich: Erstens kann man das alles ignorieren. Zweitens können diese Entwicklungen gesehen werden, aber als wirt­schaftspädagogisch irrelevant betrachtet werden. Drittens kann der pädagogische Auftrag gerade in der Ökonomisierung, Individualisierung und Zweckrationalisierung gesehen wer­den. Viertens können diese Entwicklungen erkannt und die wirtschaftspädagogischen Aufga­benstellungen kritisch-reflexiv in Frage gestellt werden. Diesen Weg verfolgt eine reflexive Wirtschaftspädagogik. Die Diskussion über die „richtige“ ökonomische Bildung wird unter den Vertreterinnen und Vertretern der allgemeinen ökonomischen Bildung durchaus heftig geführt. Zwei wissenschaftliche Gesellschaften decken mittlerweile die Breite der Diskussion ab: Die Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung (degöb) und die Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW). Wenige Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaftspädagogik nehmen an diesen Diskursen teil, dies obwohl es dabei um die Grundlagen unseres Faches überhaupt geht (vgl. Tafner 2015). Aufgabe ökonomischer Bil­dung im Sinne einer reflexiven Wirtschaftspädagogik sollte es sein, einen breiten und tiefen Blick auf die ökonomischen Grundlagen unseres Faches zu werfen, kontroverse Sichtweisen und die damit verbundene fachliche Pluralität wirtschaftlich und pädagogisch – also wirtschaftspädagogisch – zu diskutieren (vgl. Tafner 2017b).

2 Basale theoretische Grundlagen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik

In mehreren Publikationen habe ich ausführlich die Grundlagen einer reflexiven Wirt­schaftspädagogik erörtert, insbesondere in meiner Habilitationsschrift (Tafner 2015a). Auf Basis der Beck-Zabeck-Kontroverse zeige ich auf, dass eine instrumentelle ökonomische Bildung, welche auf neoklassischer Basis und einer daraus entwickelten normativen ökonomischen Ethik zu einer von Gewinn- und Nutzenmaximierung dominierten Wirtschaftssicht führt (vgl. Niemann 2011), als grundlegende pädagogische Haltung kritisch zu hinterfragen ist. Im didaktischen Dreieck (siehe Abb. 1) werden die wesentlichen Elemente und Kompe­tenzen pädagogischer Expertise abgebildet (vgl. Hattie/Zierer 2017, 22ff.):

Abbildung 1: Kompetenzen und Haltungen (in Anlehnung an Hattie/Zierer 2017, 24).Abbildung 1: Kompetenzen und Haltungen (in Anlehnung an Hattie/Zierer 2017, 24).

Die Fachkompetenz bezieht sich auf die Auseinandersetzung der Lehrperson mit den wirtschaftlichen Inhalten der Ökonomie und Ökonomik. Die Definition des genuin Wirtschaftli­chen erweist sich allerdings deskriptiv und normativ als schwierig, weil die Wirtschaftswis­senschaften – wie im Unterkapitel 2.2.3 gezeigt wird – einem bestimmten Erkenntnisinteresse folgen und nicht dem Phänomen Wirtschaft und Wirtschaften an sich (vgl. Nell-Breuning 1985, 152ff.). Die Gestaltung der wirtschaftspädagogischen Kompetenzen hängt aber wesent­lich davon ab, denn jede Disziplin soll nicht nur dem Wissenschaftsprinzip, sondern auch dem Situations- und Persönlichkeitsprinzip folgen (vgl. Reetz 1984, 76). Da die Ökonomik heute plural ist, die lebensweltlichen Situationen variieren und Bildung immer offen sein muss für Differenzierungen, müssen die fachdidaktischen und pädagogischen Kompetenzen weit und ausdifferenziert gestaltet sein.

Meistens beginnen wir mit der Frage, was wir tun und wie wir es tun. Es geht um Inhalt und Methode. Entscheidend aber ist, warum wir etwas tun. Am Beginn jeder professionellen Tätigkeit, auch der wirtschaftspädagogischen, sollte also diese Warum-Frage stehen (vgl. Sinek 2009). Damit reicht die Kombination von fachlicher, fachdidaktischer und pädagogischer Kompetenz für einen gelungenen Unterricht nicht aus. Es geht wesentlich um die Haltung, also um die Antwort auf die Frage, warum wir etwas tun (vgl. Hattie/Zierer 2017, 22ff.). Dieses Warum verweist auf den Sinn. Der Mensch versucht, seinem Leben Sinn zu geben, indem er seinen Handlungen Bedeutungen zuweist (vgl. Ulrich 2008, 221ff.). Sinnvolle Handlungen ergeben für den Menschen eine sinnvolle Struktur, die Ausdruck eines guten und geglückten Lebens sind (vgl. Nida-Rümelin 2001). „In der Tat ist Sinn mit dem gelingenden Leben synonym und die Sinnfrage betrifft zuletzt und vor allem das Welt- und Selbstverhält­nis und die richtige Koordination von Selbst und Welt im Ganzen.“ (Krämer 1995, 296). Als geistiges und materielles Wesen ist der Mensch von Leistungen anderer abhängig, um sein Dasein zu gestalten und sich verwirklichen zu können. Als selbstreflexive Persönlichkeit strebt der Mensch danach, sich als kompetent, sozial eingebunden und autonom zu erleben (vgl. Deci/Ryan 1993, 229). Es geht um eine Kompetenz, die nicht nur auf das Individuelle, sondern auch das Soziale abzielt. Kompetente Handlungen sind zweck- und wertrationale, wobei das Zweckrationale auf die Effizienz verweist. Effizienz ist eine Zweck-Mittel-Relation und damit ein Handlungstyp, der in unterschiedlichen Kontexten – und nicht nur in der Öko­nomie – zu beobachten ist, aber sehr selten nur in seiner reinen Form. Vielmehr vermischen sich in Handlungen unterschiedliche Typen (vgl. Weber 1984, 44ff.). Effizienz, die im Mit­telpunkt des Ökonomischen steht, ist an sich kein Wert, denn sowohl Verbrecherbanden als auch Krankenhäuser können effizient geführt werden. „Der Sinn der Leistung kann nie voll­ständig in ihr selbst liegen“ (Klafki 1996, 245). Effizienz muss aufgrund der Einbettung des Menschen in die Gesellschaft um Verantwortung der Gemeinschaft, sich selbst und der Umwelt gegenüber sowie um Sinn ergänzt werden (siehe Abb. 2). Diese drei Ebenen gilt es, in den Lernzielen zu verwirklichen (vgl. Tafner 2018b).

Abbildung 2: Ebenen einer Didaktik der reflexiven Wirtschaftspädagogik (Quelle: Tafner 2015a,  697).Abbildung 2: Ebenen einer Didaktik der reflexiven Wirtschaftspädagogik (Quelle: Tafner 2015a, 697).

Diese Zielebenen eröffnen drei unterschiedliche Wirklichkeitsebenen: Effizienz verweist auf das Deskriptive und Kausale. Daraus kann aber nichts Normatives abgeleitet werden. Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss, es sei denn es würde naturgesetzlich argumentiert. Das Normative verlangt normative Setzungen in Form von guten Begründungen (vgl. Habermas 2012, 37; Tetens 2010, 143). Da Wirtschaften sich lebensweltlich vollzieht, ist es immer normativ (vgl. Tafner 2018 in Druck). Wertfrei sind nur die wissenschaftlichen Modelle und Theorien – und nur als solche. Sobald sie Anwendung finden, sind sie normativ. Mehr noch: Der Mensch möchte seinem Leben und seinen Handlungen Sinn geben. Sinn ist dabei eine subjektive Zuordnung, also eine Relation, die sich aus dem Bezug einer Handlung zu einer Weltsicht oder Werthaltung ergibt. Sinn ist subjektiv, aber konstruiert sich nicht losgelöst von Gesellschaft und Kultur. Wirtschaft und Wirtschaften sind wesentliche Bestandteile des Lebens, welche einen Beitrag für die individuelle Konstruktion des Sinnvollen leisten. Gerade Wirtschaftspädagoginnen und -pädagogen sollten sich mit ihren eigenen Bildern, Überzeugungen und Haltungen im Kontext wirtschaftlicher Fragestellungen auseinandersetzen. Abb. 1 soll zeigen, dass die Kompetenzen letztlich von den Haltungen der Lehrperson getragen wird und Abb. 2., dass sich damit deskriptive, normative und subjektive Inhalte eröffnen. Gerade diese Auseinandersetzung findet weder in der Disziplin noch in den Lehrveranstaltungen ausreichend statt, wie auch die empirischen Ergebnisse dieser Arbeit in Kapitel 4 zeigen. Eine reflexive Wirtschaftspädagogik lädt zu einer solchen Auseinandersetzung ein und geht dabei von folgenden Prämissen aus.

2.1 Prämissen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik

Die erste methodologische Prämisse „ist die simple, aber nicht selbstverständliche Erkenntnis, dass Wirtschaft und Pädagogik kulturelle Phänomene sind“ (Tafner 2015a, 23). Daraus folgt: Menschen und Organisationen sind in Kultur und Gesellschaft eingebettet. Beide sind wesentlich von regulativen (Gesetzen), normativen (Moral) und kulturell-kognitiven Institutionen (Selbstverständlichkeiten) strukturiert (vgl. Scott 2001), deren Entstehung wesentlich mit Macht zusammenhängt. Sie determinieren nicht und ermöglichen eine bedingte Freiheit (vgl. Bieri 2003). Ebenso beeinflussen Kontingenzen unser Handeln. Der Mensch, so die dritte Prämisse, findet als Individuum und soziales Wesen immer eine Lebenswelt vor, in der er handelt. Es ist die Welt, in der wir leben und die wir in unserem Bewusstsein wahrnehmen. Es ist sozusagen die Welt draußen vor unseren, aber auch hinter unseren Augen. Sie erleben und erfahren wir. Erlebnisse sind besondere Bewusstseinszustände, die aus dem Fluss des Bewusstseins hervortreten und uns in Erinnerung bleiben. Denken wir darüber nach und reflektieren wir sie, dann machen wir Erfahrungen, die wir individuell in subjektiven Theorien oder kollektiv über die Vermittlung durch die Sprache im Common Sense ausdrücken (vgl. Schütz/Luckmann 2017). Von der Lebenswelt sind die wissenschaftlichen Theorien und Modelle zu unterscheiden. Diese philosophische Unterscheidung ist keine akademische Spielerei, sondern im Hinblick auf die ökonomische Bildung von konstitutiver Bedeutung, die zur dritten Prämisse führt: Die Crux der ökonomischen Bildung ist die Unterscheidung von lebensweltlicher Ökonomie und wissenschaftlicher Ökonomik (vgl. Tafner 2016). Gerade die Nichtbeachtung dieser Trennung führt zu großen Missverständnissen. Trotz ihrer Trennung sind beide aufeinander bezogen (siehe 2.2.4): „Das Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen ‚gründet‘ in der Evidenz der Lebenswelt. […] Die paradoxe Aufeinanderbezogenheit von ‚objektiv wahrer‘ und ‚Lebenswelt‘ macht die Seinsweise beider rätselhaft.“ (Husserl 2012, 287f.) Ohne wirtschaftliche Lebenswelt gibt es keine Theorien und Modelle. Andererseits wirken ökonomische Theorien auf die Lebenswelt zurück. Modelle können sich also reifizieren (vgl. u. a. Schweitzer-Krah/Engartner 2019). Das Ergebnis wissenschaftlichen Nachdenkens ist die Erkenntnis. Sie kann zur lebensweltlichen Erfahrung werden, wenn sie in der Lebenswelt als Erfahrung aufgenommen wird. Es ist also wesentlich, wie wir Modelle und Theorien wirtschaftspädagogisch darstellen und was wir aus ihnen ableiten. Im Sinne des Beutelsbacher Konsens gilt es, die wissenschaftliche und lebensweltliche Kontroversität des Ökonomischen aufzugreifen. Dies führt zur vierten Prämisse: Die Fokussierung des menschlichen Handelns auf die egoistische Zweckrationalität greift nicht nur im Allgemeinen, son­dern auch im wirtschaftlichen Kontext zu kurz. Die Ökonomik bietet heute eine Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen wie z. B. Verhaltensökonomik, Komplexitätsökonomik, ökologische Ökonomik, Postkeynesianismus an (vgl. Becker et al. 2009), welche im Sinne der Pluralität ebenso Berücksichtigung finden sollten.

2.2 Die Dimensionen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik

Historisch und systematisch können folgende Dimensionen der Wirtschaftspädagogik definiert werden:  das Kaufmännische, das Volkswirtschaftliche, das Soziale, das Moralisch-Ethische, das Politische und das Pädagogische. Diese werden nun kurz dargelegt (ausführlich Tafner 2015a, 2018a, 2019), wobei die kaufmännische und volkswirtschaftliche Dimension gemeinsam betrachtet, aber zwischen Ökonomie und Ökonomik unterschieden wird.

2.2.1 Die pädagogisch-didaktische Dimension

Eine reflexive Wirtschaftspädagogik folgt einem reflexiven und nicht transitiven Bildungsbegriff (vgl. Tafner 2015b). Bildung vollzieht sich im Inneren des Menschen: Ich bilde mich. Weder: Ich werde gebildet, noch: Wir bilden andere (vgl. Bieri 2005, 1). Ausgangs- und Zielpunkt der Bildung ist der bildungsfähige und bildungsbedürftige Mensch, der untrennbar selbstbestimmungs- und solidaritätsfähig ist (vgl. Nell-Breuning 1985, Klafki 1996). Als geistiges und materielles Wesen benötigt der Mensch auch andere, er kann nicht alleine leben. Das bezieht sich auf das Emotionale, Normative, Sinnstiftende genauso, wie auf das Wirtschaftliche. Gerade auch das Single in der Großstadt benötigt Leistungen anderer. Es kommt letztlich „im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung an[…], d. h. auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zu Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung“ (Rosa 2016, 19). Zur Weltaneignung gehört ebenso das Ökonomische.

2.2.2 Die wirtschaftliche Dimension der Ökonomie

Diese Dimension verweist auf die Lebenswelt. Sie bezieht sich auf das lebensweltlich Kaufmännische (Betriebswirtschaftliche) genauso wie auf das Volkswirtschaftliche. Oder anders gesagt: Es umfasst die einzel- und gesamtwirtschaftliche Ebene. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass wir Leistungen benötigen, die wir nicht selbst erbringen können. Es ist uns auch bewusst, dass unsere Mittel begrenzt sind. Deshalb müssen wir uns entscheiden, ob wir etwas benötigen und von wo wir dieses Etwas beziehen können. Wirtschaften ist also eine Wahlentscheidung über die Mittel, die wir zum Leben brauchen. Es ist also ein geistiger Vollzug zur Wahl der Mittel für die Daseinsgestaltung und Selbstverwirklichung, wissend, dass unsere Mittel knapp sind (vgl. Nell-Breuning 1985, 151ff.).[2]  Unsere Entscheidung hängt dabei von Bedingungen wie Strukturen, Institutionen, Ressourcen, Macht und Kontingenzen ab. Den Großteil dieser Bedingungen finden wir vor. Den kleineren Teil können wir durch eigene Entscheidungen beeinflussen. Sie können gerecht oder ungerecht sein. Der Mensch kann unter den gegebenen Bedingungen ganz unterschiedlich seine Wahlentscheidung vollziehen. Er kann zweckrational zugunsten anderer, zweckrational zum eigenen Vorteil, zweckrational boshaft gegenüber anderen, aber auch wertrational, affektiv oder traditionell entscheiden (vgl. Weber 1984) oder unbewusst ein wirtschaftliches Tun ausführen. Wirtschaften „reicht von scheinbar völlig ‚irrationalem‘ in der einen Extremlage bis zu ‚absolut rationalem‘ in der anderen“ (Porstmann 1986, 64). In der Neoklassik jedoch gilt als Wirtschaften nur die egoistische zweckrationale Handlung (siehe 2.2.3).

Ein Teil der Entscheidung bezieht sich darauf, ob etwas benötigt wird. Eine Wahl ist dies jedoch nur dann, wenn es grundsätzlich die Möglichkeit auf den Zugriff gibt. Wer aufgrund der Bedingungen gar nicht entscheiden kann, kann nicht Wirtschaften. Hingegen kann jemand, der grundsätzlich etwas benötigt, auch darauf verzichten. Ein solch freiwilliger Verzicht ist auch Wirtschaften, denn auch das Unterlassen ist eine soziale Handlung (vgl. Weber 1984, 19ff.). Die zweite Entscheidung ist, was genau benötigt und wie es besorgt wird. Auch diese Entscheidung kann wiederum in der oben beschriebenen Art erfolgen. Die Beschaffung der Mittel hängt von der eigenen Weltsicht, den eigenen Vorstellungen der Daseinsgestaltung und Selbstverwirklichung ab. Das Mittelsystem Wirtschaft stellt die Mittel bereit, welche von jenen benötigt werden, die auf die Wirtschaft zugreifen. Welchen Zweck diese Mittel haben, wissen nur jene, die auf die Mittel zugreifen. Die Aufgabe der Wirtschaft ist eine dienende: Sie stellt die Mittel bereit, die andere benötigen – ihr letztlicher Zweck spielt dabei keine Rolle. Somit dient die Wirtschaft der Daseinsvorsorge bzw. der Selbstverwirklichung der Menschen. In diesem Sinne ist Wirtschaft zweckrational: Sie dient der Herstellung von Mitteln, die Zwecke dienen, die sie selbst meist nicht kennt (vgl. Nell-Breuning 1985, 151ff.).

Die berufliche Bildung setzt sich mit dem Mittelsystem Wirtschaft auseinander und fördert jene Kompetenzen, welche zur Durchführung der Transaktionen notwendig sind (vgl. Kutscha 2009). Diese Perspektive ist nur eine Sicht auf das Mittelsystem. Abhängig von der eigenen Rolle und Verortung ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf Wirtschaft. Das verweist auf die soziale Dimension. Wie also die Phänomene Wirtschaft und Wirtschaften wahrgenommen werden, hängt u. a. von den gegebenen Bedingungen, den Weltsichten und der Lebensgestaltung sowie von der eigenen Rolle ab. Die Sichtweisen sind daher vielfältig und multiperspektivisch: „Als ‚Volkswirtschaft‘ bezeichnen wir in der Regel eine unendlich verschlungene und vielgestaltige erfahrungsmäßige Beziehung von Interessen und Handlungen, von Einrichtungen und Veranstaltungen, welche in ihrer vollen empirischen Realität, in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit und ihren fortwährenden Veränderungen begrifflich nie völlig erfasst werden kann.“ (Amonn 1927, 29, zit. n. Porstmann 1986, 55).

2.2.3 Die wirtschaftliche Dimension der Ökonomik

Diese Dimension beschreibt die Welt der Wirtschaftswissenschaften, sowohl der Betriebs- als auch der Volkswirtschaftslehre. Die Ökonomik arbeitet wie jede Wissenschaft mit Komplexitätsreduktion. Dafür entwirft sie Modelle. Diese sind aber nicht wie in der Geographie Landkarten, sondern Modelle zweiter Ordnung. Die Geographie hat es – vorausgesetzt wir können Wirklichkeit objektiv wahrnehmen – mit objektiven Realitäten zu tun. Ein wahrge­nommener Berg kann in einer Landkarte verkleinert und vereinfacht dargestellt werden. Mit Wirtschaften verhält es sich nicht so einfach, denn dies kann nicht direkt beobachtet werden. Es muss zuerst ein Bild von Wirtschaften entworfen und dieses verbalisiert werden, um in der Vielzahl der menschlichen Handlungen das Ökonomische zu erkennen. Erst auf Basis dieses Bildes erfolgt die Modellierung. Es ist also eine Modellierung zweiter Ordnung. Deshalb gibt es unterschiedliche Theorien und Modelle.

Abgesehen davon, dass die Wirtschaftswissenschaft „inhaltlich gar nicht so einfach zu bestimmen sind“ (Porstmann 1986, 60), sagen sie sehr wenig darüber aus, was Wirtschaft und Wirtschaften lebensweltlich sind, denn ihr Ziel ist nicht die phänomenologische Beschreibung. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf Zweckrationalität aus, also auf eine Zweck-Mittel-Relation und damit auf Effizienz, also eine Output-Input-Relation (vgl. Nell-Breuning 1985, 152ff.). Im neoklassischen Standardmodell sieht das so aus:

1) Es wird von einer egoistischen Zweckrationalität der Akteure ausgegangen, zugespitzt im Homo oecomomicus. 2) Alle entscheidungsrelevanten Informationen sind in Preisen darstellbar. 3) Wesentliche Bedingungen wie Strukturen, Macht, und Institutionen, welche in der lebensweltlichen Ökonomie von entscheidender Bedeutung sind, werden als exogen betrachtet. So werden Faktoren, welche konstitutiv für das Wirtschaften sind, wie Vertrauen, Kooperation oder Moral aus dem Modell ausgeklammert. Obwohl der Mainstream durch die Finanzkrise erschüttert wurde und die Literatur über die Kritik an der Neoklassik mittlerweile sehr umfassend geworden ist (aber hier nicht dargestellt werden kann), bleibt es als Paradigma vorherrschend (vgl. Schweitzer-Krah/Engartner 2019). Der „Sidestream“ bildet ein Spektrum an alternativen Zugängen mit einer Besonderheit im Vergleich zur Neoklassik ab: „Im Gegensatz zum orthodoxen Wissen [werden] real beobachtbare Phänomene wie Armut, Macht, Arbeitslosigkeit und soziale Exklusion von der theoretischen Konzeption nicht ausgeklammert. Menschen sind keine Lustmaschinen in einem stetigen mechanischen, physikalischen oder mathematischen Raum, keine kybernetischen Maschinen, deren Verbund eindeutig durch einen Algorithmus abzubilden wäre. Die historische Verlagerung der Ökonomie aus einem sozialen, moralischen und staatlichen in einen reinen, mathematischen Raum der ökonomischen Anschauung bedarf einer gründlichen theoretischen Reflexion“ (Becker et al. 2009, 8). Dies ist Aufgabe einer reflexiven Wirtschaftspädagogik.

Im einschlägigen betriebswirtschaftliche Lehrbuch der Allgemeinen Betriebswirtschaft ist zu lesen (Wöhe/Döring 2013, 6): „Effizienz ist für den Ökonomen der allein gültige Maßstab zur Beurteilung betrieblicher Handlungen.“ Es geht hier nicht mehr um eine Legitimation von Effizienz oder um die Frage, welche Leistung damit verbunden ist, sondern um einen Selbstzweck. Das Dienende der Wirtschaft ist aus dem Augen verloren und der Mensch nur noch Mittel zum Zweck: „Für den nüchternen Ökonomen ist die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse Dritter Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung.“ (Wöhe/Döring 2013, 13) Wer kann das pädagogisch gutheißen? Ist nicht auch in der Neoklassik das Ziel des Wirtschaftens die Befriedigung der Bedürfnisse? Ist es nicht Aufgabe der Unternehmen, Leistungen für andere zu erbringen? Um diese Leistungen geht es im Kern. Damit diese erbracht werden können, müssen Kosten langfristig gedeckt, muss die Liquidität aufrechterhalten und die sozioökonomischen Beziehungen gemanagt werden. Aber selbst im Lexikon der ökonomischen Bildung wird ausgeführt, dass die Wirtschaftssubjekte ihre Mittel so verwenden, „dass sie ihnen (1) als Konsumenten den höchsten Nutzen (Nutzenmaximierung) und (2) als Unternehmer den höchsten Gewinn (Gewinnmaximierung) bringen. Wirtschaften folgt dem aus dem Vernunftprinzip abgeleiteten ökonomischen Prinzip" (May 2012, 667). Da verwundert nicht, dass sich in diesem Lexikon unter dem Schlagwort Ethik nur die ökonomistische Wirtschaftsethik Homanns alternativlos wiederfindet (vgl. Homann 2012; May 2012). Dieses ökonomische Prinzip mit dem Vernunftprinzip schlechthin gleichzustellen, ist philosophisch zurückzuweisen (vgl. Niemann 2011).

Wie stark der Mainstream ausgeprägt ist, dokumentiert sich u. a. dadurch, dass mit der Ethik Homanns eine auf die Neoklassik und den Homo oeconomicus ausgerichtet Ökonomik selbst zur Grundlage der Ethik und damit zur ethischen Legitimation egoistischer Zweckrationalität wird (kritisch dazu Tafner 2015, 2017, 2018a; Niemann 2011 sowie eine Fülle an unterschiedlichen Autoren, die hier nicht angeführt werden können). Auch bei Aff (2008) dokumentiert sich der neoklassische Mainstream, wenn er ausführt, dass „die in der Ökonomie bestehenden antinomischen Beziehungen zwischen ökonomischer Rationalität und individuellen Ansprüchen (lebenspraktische Vernunft lt. P. Ulrich) die beiden Pole des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Erziehung, also der zentrale Gegenstandsbereich von Wirtschaftspädagogik, markiert“ (Aff 2008, 7). Darin zeigt sich sowohl die Anerkennung des Mainstreams als das Wirtschaftliche schlechthin, als auch ein Kategorienfehler, der sich aus der Nicht-Trennung von Ökonomie und Ökonomik ergibt (kritisch dazu Tafner 2012, 35ff.).

Auch die weltbekannten Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre (vgl. Mankiw 2001; Samuelson/Nordhaus 2001) gehen von einer egoistischen Zweckrationalität aus. Die Kritik an ihnen wendet sich gegen ihre manipulative neoklassische Einseitigkeit (vgl. Graupe 2017; Treeck/Urban 2016). Dies obwohl sich neben dem neoklassischen Mainstream der Sidestream stark ausdifferenziert hat (vgl. Beckenbach/Daskalakis/Hofmann 2016; Becker et al. 2009; Netzwerk plurale Ökonomik 2018). Darüber hinaus zeigen empirische Untersuchungen, dass in den Lehrveranstaltungen die Neoklassik zur dominanten Lehre geworden ist (vgl. Beckenbach/Daskalakis/Hofmann 2016; Schweitzer-Krah/Engartner 2019).

Die Problematik ist trotz vermeintlicher Wertfreiheit eine normative: „Erhebt man, wie namentlich die Schulbücher der BWL es zu tun lieben, einen ‚Kapitalismus‘ dieser Art zum System mit der Gewinnmaximierung als Axiom, dann verabsolutiert man das in sich selbst eines Maßes entbehrende und daher zu Übersteigerung ins Maßlose neigende abstrakte Erwerbstreben zum Prinzip. Ein solches ‚System‘ wäre unmenschlich. […] Unglücklicherweise übt aber das Lehrbuchmodell einen erzieherisch äußerst verderblichen Einfluss aus: das Denken des angehenden Wirtschaftsbeflissenen wird in eine gefährliche Richtung gelenkt, indem aller angeblichen oder vorgeschützten Wertfreiheit zum Trotz die Gewinnmaximierung normativ zum Sinn der Wirtschaft erhoben und zugleich als Lohn für strenge Befolgung des pleonastisch so genannten ökonomischen Rationalprinzips hingestellt wird.“ (Nell-Breuning 1973, 38f.)

2.2.4 Die Interdependenz von Ökonomie und Ökonomik

Ökonomie und Ökonomik sind voneinander zu unterscheiden, dennoch wirken sie wechselseitig aufeinander. Einerseits ist die Entstehung von ökonomischen Modellen und Theorien immer in einen zeitlichen und räumlichen Kontext gebunden (vgl. Pierenkemper 2012). Wer Adam Smith verstehen will, muss den Kontext der Aufklärung verstehen und wer Keynes Theorie durchdringen will, muss die Weltwirtschaftskrise und die mangelnde Erklärungskraft der Neoklassik erkennen. Andererseits wird versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse aus Theorien und Modellen in Handlungsanleitungen überzuführen. In diesem Moment verlieren Erkenntnisse ihre Wertfreiheit und werden normativ. Welche ökonomischen Ideen Umset­zung finden, ist abhängig vom Zeitgeist, von der Gesellschaft und Kultur. Unsere Gesellschaft und Kultur ist heute stark von neoklassischen Ideen geprägt (vgl. Tafner 2015a, 478ff., Tafner 2017, 2ff.). Keynes (1997, 383) beschreibt die Wirkung von philosophischen und ökonomi­schen Theorien auf das Handeln. “The ideas of economists and philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else.“ Ähnlich argumentiert Gutenberg (2002, 12): „Die Betriebe oder Unternehmen […] sind nicht nur die Summe ökonomischer, sozialer und technischer Einzelheiten. Sie sind als Typen vielmehr geformt aus den geistigen Grundlagen ihrer Zeit. […] Es sind also im Grunde keine ökonomischen Kräfte und Prozesse, die Form und Gestalt des wirtschaftlichen Vollzugs bestimmen.“

Der Auftrag an die ökonomische Bildung soll daher lauten: Pluralität bei betriebs- und volkswirtschaftlichen Modellen und Theorien sowie die Darlegung der Trennung und Interdepen­denz von Ökonomie und Ökonomik. Jede Anwendung überträgt Erkenntnisse von der Wis­senschaft in die Lebenswelt. Dort ist Effizienz kein Selbstzweck. Weder heiligen die Mittel die Zwecke, noch die Zwecke die Mittel. In der Lebenswelt müssen wirtschaftliche Handlungen ethisch legitimiert sein. So eröffnen sich die soziale, ethische und politische Dimension.

2.2.5 Die soziale und politische Dimension

Mensch und Organisation sind in Gesellschaft und Kultur eingebettet. Menschen nehmen unterschiedliche wirtschaftliche Rollen und damit verschiedene Perspektiven ein: Konsumentinnen und Konsumenten, Unternehmerinnen und Unternehmer, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Arbeitslose, Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker sowie Beobachterin und Beobachter. Diese gilt es in der ökonomischen Bildung kennenzulernen und im besten Fall auch selbst zu erleben (vgl. Köck/Tafner 2017). Zur Selbstbestimmungsfähigkeit gehört auch die Einsicht, auf Argumente anderer einzugehen und andere Sichtweisen zu erkennen. Das Abwägen eigener und fremder Interessen ist dabei situationsabhängig und von unterschiedlichen Kontexten abhängig. Wie anders die Idee des Homo oeconomicus: In der Ökonomik hat er seine Berechtigung, in der Lebenswelt aber – wie viele verhaltensökonomische Experimente zeigen – wäre er lebensunfähig. Diese modellhafte Figur ist also kein Menschenbild!

Die soziale Dimension führt direkt zur politischen. Unsere Gesellschaft wird wesentlich von regulativen Institutionen strukturiert, welche auf Basis von Demokratie sowie Grund- und Menschenrechten auf nationaler und EU-europäischer Ebene entstehen. Die Idee der Demokratie kann nur aufrecht gehalten werden, wenn Demokratie gelebt wird. Partizipation ist daher der Schlüssel zur Demokratie (vgl. Köck/Tafner 2017).

Wesentlich bei der Bearbeitung wirtschaftspolitischer Inhalte ist der Beutelsbacher Konsens. Es sind wirtschaftliche Inhalte lebensweltlich und wissenschaftlich so kontrovers darzustellen, wie sie sich eben in der Lebenswelt und der Wissenschaft wiederfinden. Vor allem müssen sich die Pädagoginnen und Pädagogen ihrer eigenen Standortbestimmungen bewusst sein, um nicht implizit zu indoktrinieren. Erstens darf nicht dahingehend überwältigt werden, indem nur bevorzugte wissenschaftliche Theorien und Modelle dargeboten werden. Zweitens ist bei der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anzusetzen. Es geht darum, die eigenen Erlebnisse in Erfahrungen überzuführen und diese mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu konfrontieren. Die Auseinandersetzung mit den subjektiven Theorien und dem Common Sense zu wirtschaftlichen Fragen einerseits und die plurale Darstellung von wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und Modellen andererseits ist Aufgabe ökonomischer Bildung.

2.2.6 Die ethisch-moralische Dimension

Der Mensch strebt nach Sinn und damit nach dem gelungenen und guten Leben. Dieses Leben führt er eingebunden in die Gesellschaft, das sich nur im Zusammenleben mit anderen Menschen erreichen lässt. Das Zusammenleben wird neben regulativen wesentlich von normativen Institutionen, also von Moral und Konventionen, strukturiert. Sie schützen das Individuum vor der Gesellschaft und die Gesellschaft vor dem Individuum (vgl. Habermas 2009, 18, 123; Ulrich 2008, 31). Wir lernen Moral explizit und vor allem implizit durch Erziehung, Soziali­sation und Enkulturation und wissen grundsätzlich, was moralisch gut und schlecht ist (vgl. Habermas 2009, 180). Da es in pluralistischen Gesellschaften aber unterschiedliche Moralvorstellungen gibt, bedarf es der ethischen Reflexion der Moral. Ethik hinterfragt die Legitimation der Moral auf philosophischer Basis mit rationaler Begründung. Dass solche Diskussionen möglich sind, zeigt, dass es objektiv gute allgemeine normative und nicht nur subjektive Gründe gibt (vgl. Nida-Rümelin 2001, 75ff.). Aber es gibt nicht nur eine Ethik, sondern unterschiedliche Ethikformen – auch in der Wirtschaftsethik. Aus den bisherigen Ausführun­gen kann geschlossen werden, dass eine normativ ökonomische Ethik sensu Homann, welche sich an einem ökonomischen Imperativ ausrichtet und im Rahmen der Beck-Zabeck-Kontro­verse diskutiert wurde, im Rahmen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik nicht verfolgt wird (vgl. ausführlich dazu: Tafner 2012; 2015a, 233ff.).

Eine reflexive Wirtschaftspädagogik geht davon aus, dass jede wirtschaftliche Handlung eine ethisch legitimierte sein soll. Ethik erweitert den Blick und versucht das ökonomisch Mach­bare mit dem ethisch Vertretbaren zu verbinden. Gewinn- und Nutzenmaximierung sind per se keine ethisch legitimierten Handlungen. Es ist immer zu fragen, Effizienz für wen, wozu und unter welchen Bedingungen. Hängt Wirtschaften mit Knappheit zusammen, dann ergibt sich daraus nicht nur die Frage der Effizienz, sondern auch die Frage der Gerechtigkeit: Wer hat die Mittel und wer hat sie nicht? Bei Adam Smith war die „Gerechtigkeit dagegen […] der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, dann muss der gewaltige, der ungeheure Bau der menschlichen Gesellschaft […] in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen“ (Smith 2010, 138).

Erste wesentliche ethische Hinweise sind aus der Ethik Adam Smiths abzuleiten. Dies ist insbesondere deshalb so erhellend, weil gerade seine Theorien fälschlicherweise in der Rezeption als Grundlage egoistischen zweckrationalen Handelns dienen (ausführlich dazu: Tafner 2018 in Druck). Im Geiste der Aufklärung sorgt bei Adam Smith nicht mehr der Herrscher, sondern die autonomen Individuen für Wohlstand. Autonom bedeutet aber nicht egoistisch um jeden Preis. Der Mensch verfügt als soziales Wesen über Empathie. Darauf baut Adam Smith (1977) in seinem ersten Werk (The Theory of Moral Sentiments, Erste Auflage 1759) auf. Der Mensch ist fähig, seine Selbstliebe, sein Eigeninteresse, für andere zurückzustellen, weil er sich in andere hineinversetzen kann. Diese Sympathie – heute würden wir Empathie sagen – ist bei Smith der Ausgangspunkt ethischen und vernünftigen Handelns. Er weiß auch, dass andere Menschen dasselbe können. Diese Reziprozität ist der Ausgangspunkt jeder Moral. Der Mensch verfügt über einen unparteiischen Beobachter, der ihm sagt, was er tun und unterlassen sollte. Da er aber nicht immer auf diesen hört, gibt es normative Institutionen (Moral), die von außen Druck erzeugen. Greift Moral nicht, so sind es die Gesetze, die durch Androhung von Sanktionen auf ihn wirken. Diese drei Schranken schränken nach Adam Smith unsere Selbstinteressen ein. Es geht bei ihm also nicht um Egoismus, der die Interessen der anderen nicht berücksichtigt. Als vierten Schranken führt er in seinem zweiten Werk, An Inquiry into the Wealth of Nations (1776), noch den Wettbewerb ein, damit die Unternehmen nicht ihre eigenen egoistischen Zwecke auf Kosten der Konsumentinnen und Konsumenten verfolgen können (vgl. Eckstein in Smith 1977, XXIV–XXV; Recktenwald in Smith 1974, XLI–XLII).

Immanuel Kant greift die Idee des unparteiischen Beobachters auf und elaboriert daraus den kategorischen Imperativ (Ulrich 2008, 63ff.): „[I]ch soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (Kant zitiert in Henning 2016, 44). Im Mittelpunkt der ethischen Entscheidung steht der „gute Wille“, also die Absicht. Diese Absicht muss zum allgemeinen Gesetz werden können (vgl. Henning 2016, 11ff.). In der Zweckformel kommt die wirtschaftliche Relevanz stärker zum Ausdruck: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest“ (Kant zitiert in Henning 2016, 83). Sie wendet sich gegen eine Vereinnahmung unter einem Shareholder-Value und der Gewinnmaximierung (vgl. Zabeck 2004, 57), in der der Mensch nur noch Mittel, aber nicht mehr Zweck ist.

2.3 Die Zielebenen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik und das Rad der sozioökonomischen Bildung

Das Rad der sozioökonomischen Bildung (siehe Abb. 2) fasst die Ausführungen zu den einzelnen Dimensionen sowie die drei Zielebenen zusammen (vgl. Tafner 2018a).

Abbildung 3: Das Rad der sozioökonomischen Bildung  (Quelle: Eigene, vereinfachte Darstellung).Abbildung 3: Das Rad der sozioökonomischen Bildung (Quelle: Eigene, vereinfachte Darstellung).

Im Mittelpunkt steht der Mensch als individuelles und soziales Wesen (erster Kreis), davon ausgehend im zweiten Kreis die sechs Dimensionen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik. Ganz außen sind die Wirklichkeitsebenen von Effizienz, Verantwortung und Sinn abgetragen, welche das Handeln mit einer Ausnahme in allen Dimensionen umspannen: In der Dimension der Ökonomik geht es um wissenschaftliche Erkenntnis – und dies nur in den Modellen an sich. Wird die Ökonomik lebensweltlich behandelt, dann wird das Wissenschaftliche ins Lebensweltliche geholt und die anderen Dimensionen finden Berücksichtigung. Sozioökonomische Bildung kann damit an jeder dieser sechs Dimension ansetzen – deshalb auch die Darstellung als Kreis –, sie kann jedoch nur in der Gesamtheit des Kreises gedacht werden, weil eine Dimension immer auf eine andere verweist. Alles andere ist eine Verengung, welche den Dimensionen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik nicht gerecht wird.

Das Rad der sozioökonomischen Bildung dient der Reflexion auf unterschiedlichen Ebenen: Erstens soll es der Reflexion der eigenen Haltung und der Frage nach dem eigenen Menschenbild als Ausgangspunkt dienen. Ausgehend von der Trennung von Ökonomie und Ökonomik soll das eigene Wirtschaftsbild und dessen Wirkung auf die anderen Dimensionen im Rad hinterfragt werden. Zweitens kann es als basales fachdidaktisches Modell verstanden werden. Dies wird beispielhaft im nächsten Kapitel gezeigt.

3 Lehrveranstaltung auf Basis des Rads der sozioökonomischen Bildung

Auf Basis des Rads der sozioökonomischen Bildung wurde eine Lehrveranstaltung auf Mas­terniveau entworfen, die an den Standorten Graz, Paderborn und Berlin im Sommersemester 2018 angeboten wurde. Als Richtziele wurden definiert:

  1. Die Teilnehmenden sollen sich mit der ökonomischen Bildung als Allgemeinbildung im Medium der Berufsbildung im Sinne einer reflexiven Wirtschaftspädagogik auseinandersetzen.
  2. Die Teilnehmenden sollen die Prämissen und Definitionen der ökonomischen Rationalität hinterfragen und die Frage stellen, ob es unterschiedliche Formen der (ökonomischen) Rationalität gibt und in welcher Relation sie zur sozialen Verantwortung stehen bzw. steht.
  3. Die Teilnehmenden sollen ihre eigenen, fachlichen und normativen, fachdidaktischen und pädagogischen Standpunkte in Kontext von Ökonomie und Ökonomik reflektieren.

Alle drei Lehrveranstaltungen eröffneten mit einer Einführung in eine reflexive Wirtschaftspädagogik. Als Vorbereitung erhielten die Studierenden relevante Literatur über Moodle und mussten sich für Referate vorbereiten. In Paderborn und Berlin wurde ein phänomenologischer und in Graz ein dialektischer Zugang gewählt.

3.1 Dialektische Vorgangsweise in Graz

In der VU (Vorlesung und Übung) „Betriebs- und Volkswirtschaft unter wirtschaftspädagogischer Perspektive“ (2 Wochenstunden) mussten sich die Studierenden neben den einschlägigen Aufsätzen zur reflexiven Wirtschaftspädagogik mit „The Economics Anti-Textbook“ (Hill/Myatt 2010) auseinandersetzen. Grundlegende Kapiteln daraus wurden als Referate an die Studierenden vergeben. Der Besonderheit des Lehrbuches folgend, wurde als grundle­gende geisteswissenschaftliche Methode für die Umsetzung der Lehrveranstaltung die Dialektik gewählt (vgl. Danner 2006, 193ff.). Kapitel für Kapitel wird im Lehrbuch in die neoklassische Volkswirtschaftslehre eingeführt, ebenso wie dies aus den meisten Lehrbüchern bekannt ist. Jedes Kapitel besteht aber aus einem Standard-Text und einem Anti-Text. Im ersten Teil jedes Kapitels wird also die Volkswirtschaftslehre neoklassisch konstruiert und im zweiten Teil mit unterschiedlichen Argumenten und Perspektiven dekonstruiert. Auf die These des Mainstreams folgen also Thesen aus dem Sidestream sowie allgemeine Einwendungen. Die Synthese bleibt im Buch offen. Nach jedem Referat wurde eine Diskussion geführt und vom Dozenten weitere Argumente im Sinne der Dimensionen des Rades der sozioökonomischen Bildung eingebracht. So wurde gemeinsam an einer möglichen Synthese gearbeitet. Neben den Präsentationen und der Mitarbeit in der Lehrveranstaltung hatten die Studierenden eine abschließende Klausur zu bewältigen.

3.2 Phänomenologische Vorgangsweise in Paderborn und Berlin

In Berlin wurde im Rahmen des Seminars „Ökonomische Rationalität und soziale Verantwortung“ und in Paderborn im Rahmen des Seminars „Didaktik der Wirtschaftswissenschaft: ein kritisch-reflexiver Zugang“ die reflexive Wirtschaftspädagogik mit einem phänomenologischen Zugang umgesetzt.  Neben dem Studium der einschlägigen Literatur mit der Durchführung von Referaten mit anschließender Diskussion fand eine wissenschaftlich geleitete Auseinandersetzung mit Filmen statt. Alternativ konnte ein Buch gewählt werden, fast alle Studierenden setzten sich aber mit einem Film auseinander. Zur Auswahl standen Dokumentarfilme zu unterschiedlichen ökonomischen Themen, wie z. B. Plastic Planet, Das Leben ist keine Generalprobe, Rivalen: Adidas und Puma, Der Schnee von morgen, Amazon – gnadenlos erfolgreich, Let’s make money oder Marshallplan für Afrika. In beiden Lehrveranstaltungen wurde ein Film zur Demonstration der Anwendung des Rades der sozioökonomischen Bildung gezeigt und besprochen (Paderborn: Das Leben ist keine Generalprobe; Berlin: Population Boom). Abschließend hatten die Studierenden die Aufgabe, in einer Seminararbeit ihren Film phänomenologisch und wirtschaftswissenschaftlich mit Hilfe des Rads der sozioökonomischen Bildung in allen Dimensionen und Zielebenen zu analysieren und für den sozioökonomischen Unterrichtseinsatz vorzubereiten.

4 Empirische Untersuchungen

Mit den empirischen Untersuchungen werden drei Ziele verfolgt: Erstens soll erhoben werden, welche Bedeutung die Neoklassik mit Gewinn- und Nutzenmaximierung im Bachelor-Studium gespielt hat und wie die Studierenden diesen Zugang für sich bewerten (4.1). Es geht also um die Frage, ob für die betroffenen Studierenden die Neoklassik tatsächlich das bestimmende Paradigma darstellt. Zweitens soll erarbeitet werden, ob und wie die Paradigmen der sozioökonomischen Bildung im Sinne einer reflexiven Wirtschaftspädagogik bei den Studierenden akzeptiert werden (4.2). Drittens soll die Lehrveranstaltung selbst evaluiert werden (4.3).

Dafür wurden vor Beginn und in der letzten Lehrveranstaltung Fragebögen ausgeteilt. Einige Wochen nach der Veranstaltung wurde noch eine Online-Befragung mittels Limey-Survey durchgeführt. Alle Fragebögen enthielten offene Fragen, welche inhaltsanalytisch (vgl. Kuckartz 2010, Mayring 2015) unter Anwendung von MAXQDA und geschlossenen Fragen, welche mit SPSS statistisch deskriptiv ausgewertet wurden. Alle Aussagen beziehen sich demnach auf jene Studierende, welche an den Lehrveranstaltungen und den Untersuchungen teilgenommen haben. Die Aussagen sind also weder repräsentativ, noch beziehen sie sich auf eine unbekannte Grundgesamtheit. Von insgesamt 77 Studierenden (Berlin: 28, Graz: 22, Paderborn: 27) nahmen 64 Studierende (Berlin: 18, Graz: 21, Paderborn: 25) an der ersten Befragung (83%) und 40 Studierende an der zweiten Befragung (Graz: 21, Paderborn: 19, ohne Berlin) teil, das sind 63% aller Studierenden. Die Beteiligung an der abschließenden Online-Befragung betrug 52%.

4.1 Ökonomisches Vorwissen und Haltungen

Mit den hier gestellten Fragen sollte erhoben werden, welche Stellung die Neoklassik in der Lehre einnimmt. Vor der ersten Einheit konnten die Studierenden aus einer vorgegebenen Auswahl ankreuzen (vgl. Netzwerk plurale Ökonomik 2018), mit welchen Theorien, Schulen und Zugängen sie in der Volkswirtschaftslehre bislang konfrontiert wurden (siehe Tabelle 1). Die Auswahl sagt nichts darüber aus, wieviel Zeit in der Lehre für die einzelnen Zugänge aufgewandt und ob die jeweilige Theorie positiv, negativ oder neutral analysiert wurde. Unter diesen Vorbehalten wird dennoch die Dominanz der Neoklassik ersichtlich, da 84% der Stu­dierenden eine Auseinandersetzung mit der Neoklassik wahrgenommen haben und sie damit weit vor anderen Zugängen liegt. Bemerkenswert ist überdies, dass nur in etwa die Hälfte der Studierenden mit Wirtschaftsgeschichte konfrontiert wurde. Diese Befunde dokumentieren sowohl die Vorherrschaft wirtschaftswissenschaftlicher Inhalte deduktiver Art als auch die Dominanz der Neoklassik in der Lehre, wie sie in empirischen Studien dargelegt wird (vgl. Beckenbach/Daskalakis/Hofmann 2016; Schweitzer-Krah/Engartner 2019).

Tabelle 1: Theorie, Schulen und Zugänge in der Ökonomik

Theorie, Schule und Zugang

Nennungen

Prozent der Studierenden

Neoklassik

54

84%

Wirtschaftsgeschichte

35

55%

Verhaltensökonomik

28

44%

Marxistische Schule

25

39%

Keynesianismus allgemein

24

38%

Institutionenökonomik

20

31%

Neokeynesianismus

17

27%

Ökologische Ökonomik

15

23%

Österreichische Schule

12

19%

Postkeynesianismus

11

17%

Feministische Ökonomik

2

3%

Komplexitätsökonomik

2

3%

Evolutionsökonomik

2

3%

Da in der Neoklassik die Gewinn- und Nutzenmaximierung im Mittelpunkt steht und ethisch-moralische Fragen keine endogenen Faktoren darstellen, wurde mittels Fragebogen erhoben, wie Studierende diese beiden Kategorien bewerten und wie sie diese in der Lehre erlebt haben. In Tabelle 2 werden die Ergebnisse über Aussagen zu Ökonomie und Ökonomik unter Betrachtung dieser beiden Kategorien mit ihren Mittelwerten (MW) und Standardabweichungen (STA) dargestellt.

Tabelle 2: Aussagen über Ökonomie und Ökonomik vor der Lehrveranstaltung

 

 

Aussage bewertet von
1 (trifft völlig zu) bis 6 (trifft gar nicht zu).

MW

STA

Ethik und Moral

1a

In der VWL sollten auch Fragen der Ethik und Moral behandelt werden.

1,9

1,0

1b

In der VWL wurden Fragen der Ethik und Moral behandelt.

4,3

1,5

1c

In betriebswirtschaftlichen Lehrveranstaltungen sollte Ethik und Moral ein Bestandteil sein.

1,8

1,1

1d

Wirtschaft und Wirtschaften haben in der Wirklichkeit nichts mit Moral und Ethik zu tun.

4,7

1,2

1e

Verantwortliches Wirtschaften bedeutet, verantwortungsvoll der Umwelt und Menschen gegenüber eine Leistung für andere zu bringen.

1,9

1,0

1d

Aus moralisch-ethischen Gründen verzichte ich nicht auf meinen eigenen Vorteil.

4

1,2

Maximierung von
Gewinn und Nutzen

2a

In der realen Wirtschaftswelt ist Gewinnmaximierung das wesentliche Ziel.

2

1,1

2b

Bei allen wirtschaftlichen Handlungen geht es letztlich um die Nutzenmaximierung.

3

1,5

2c

In den betriebswirtschaftlichen Lehrveranstaltungen stand Gewinn- und Nutzenmaximierung im Vordergrund.

2,2

1,1

2d

In den Unternehmen der realen Wirtschaft sollte nicht Gewinnmaximierung im Vordergrund stehen.

2,8

1,3

2e

Verantwortliches Wirtschaften bedeutet den Gewinn zu maximieren.

3,8

1,2

2f

In wirtschaftlichen Angelegenheiten geht es mir persönlich immer nur um den eigenen Vorteil.

4,3

1,2

2g

Wenn alle nach ihren eigenen Vorteil und Gewinn streben, bringt das in Summe das größte Gemeinwohl für alle.

4,9

1,2

2h

Wer beim Wirtschaften Moral und Ethik berücksichtigt, hat einen Nachteil und ist letztlich wirtschaftlich ein Verlierer

4,2

1,4

Ethik und Moral sollten nach Ansicht der Studierenden Inhalte der VWL (1,9) und der BWL (1,8) sein. In VWL werden diese aber kaum behandelt (4,3) und in der BWL (siehe 2c) stehen Gewinn- und Nutzenmaximierung im Vordergrund (2,2). Die Studierenden sind nicht der Ansicht, dass Ethik und Moral nichts mit Wirtschaft und Wirtschaften zu tun hat (4,7). Verantwortungsvolles Wirtschaften bedeutet für sie, verantwortungsvoll den Menschen und der Umwelt gegenüber Leistungen für andere zu erbringen (1,9). Sie sind darüber hinaus bereit, aus moralisch-ethischen Gründen auf den eigenen Vorteil zu verzichten (negative Codierung 4,0). Ob sie das tatsächlich tun würden, ist damit keinesfalls beantwortet, aber sie sehen es nicht als gesellschaftlich erwünscht, den eigenen Vorteil explizit zu verfolgen. Studierende würde also Ethik und Moral in den Lehrveranstaltungen begrüßen, angeboten wird diese Kategorie jedoch kaum.

Der Aussage, dass es beim Wirtschaften letztlich nur um die Nutzenmaximierung gehe, wird als eher zutreffend bewertet (3). Bemerkenswert ist, dass die Beantwortung der Aussage über die Nutzenmaximierung bei den Studierenden aus Graz deutlich zustimmender ausfällt (2,2). Beim lebensweltlichen Wirtschaften ist nach Ansicht der Studierenden die Gewinnmaximierung das wesentliche Ziel (2,0). Hier ist ein Widerspruch zur Aussage oben zu sehen. Wenn Gewinnmaximierung lebensweltlich ein Ziel ist, warum sollte es dann nicht Inhalt in der Lehre sein? Dies ist der Fall, denn sie stand in betriebswirtschaftlichen Lehrveranstaltungen im Mittelpunkt (2,0). Etwas schwächer stimmen sie aber der Aussage zu, dass dies in den Unternehmungen nicht so sein sollte (2,8). Auch hier ein Widerspruch: Wie kann die wahrgenommene Gewinnmaximierung der Unternehmen mit dem Wunsch nach mehr Ethik in Einklang gebracht werden? Verantwortliches Wirtschaften ist nach Ansicht der Studierenden eben nicht Gewinnmaximierung (3,8). Auch für ihr eigenes Verhalten weisen sie die Aussage, immer den eigenen Vorteil zu suchen, relativ eindeutig zurück (4,3). Bemerkenswert ist ebenso die Ablehnung der Aussage, dass die Berücksichtigung von Ethik und Moral beim Wirtschaften zu Nachteilen führt (4,2), eine Behauptung, die vor allem von Vertretern der normativen ökonomischen Ethik immer wieder aufgestellt wird. Ebenso interessant ist die Ablehnung der These, dass die Summe aus allen einzelnen Vorteilen auch das größte Gemeinwohl bringt (4,9). Damit weisen sie die implizite Unterstellung der Neoklassik, welche als harmonia praestabilita (Nell-Breuning 1974, 70) bezeichnet wird, klar zurück.

Die Auswertung der offenen Fragen brachte folgendes Ergebnis: Die zwei häufigsten Antwortkategorien auf die Frage, welche Erkenntnisse sie aus der Volkswirtschaftslehre mitnahmen, waren mit 22 Nennung (31% aller Nennungen) das Arbeiten mit Modellen und Theorien sowie mit 21 Nennungen (29%) das Verstehen von Zusammenhängen. Die Studierenden betrachten jedoch bereits die Darstellung im Angebots-Nachfrage-Diagramm als das Darlegen von Zusammenhängen. Die kritische Diskussion der Annahmen des Modells (insbesondere Gleichgewicht, Unabhängigkeit der Kurven voneinander) waren für die Studierende, obwohl sie bereits den Bachelor absolvierten, erhellend. Alle anderen Kategorien lagen unter 10%.

Die Frage, was gute ökonomische Bildung und VWL sind, wurde in Kategorien zusammengefasst so beantwortet: Zusammenhänge verständlich machen mit 22 Nennungen (26%), Modelle und Theorien kritisch-reflexiv darlegen mit 19 Nennungen (23%), eine sozioökonomische Sicht einnehmen mit 15 Nennungen (18%) und einen Praxisbezug herstellen mit 12 Nennungen (14%). Alle anderen Nennungen lagen unter 5 Prozent.

4.2 Akzeptanz der Paradigmen einer sozioökonomischen Bildung

Einige Wochen nach der Lehrveranstaltung bewerteten die Studierenden in den Sommerferien über einen Limesurvey Online-Fragebogen (n = 33, das sind 52% der Studierenden) auf einer Likertskala von 1 (trifft vollkommen zu) bis 5 (trifft überhaupt nicht zu) Aussagen zu den vier wichtigsten Paradigmen des Rades der sozioökonomischen Bildung. Dabei wurde a) immer die Zustimmung zum Paradigma und b) eine wesentliche Konsequenz dieses Paradigma abgefragt. Schließlich wurde, c), erhoben, wie weit dies mit dem sozioökonomischen Zugang in der Lehrveranstaltung zusammenhängt. Die folgende Tabelle 3 fasst die Ergebnisse zusammen.

Tabelle 3: Akzeptanz der sozioökonomischen Paradigmen lt. Kapitel 2.1

Nr.

Aussagen von 1 (trifft vollkommen zu) bis 5 (trifft überhaupt nicht zu)

MW

STA

1a

Mensch und Organisationen sind in Natur, Gesellschaft und Kultur eingebettet.

1,3

0,6

1b

Mensch und Organisationen sind in Natur, Gesellschaft und Kultur eingebettet: Daraus folgt, dass beim Wirtschaften immer auch Soziales und Ethisches bedeutsam sind.

1,3

0,4

1c

Mensch und Organisationen sind in Natur, Gesellschaft und Kultur eingebettet: Diese Aussage wurde mir erst durch den sozioökonomischen Zugang klar.

2,7

1,2

2a

Der Mensch ist sowohl Individuum als auch soziales Wesen.

1,1

0,1

2b

Der Mensch ist sowohl Individuum als auch soziales Wesen: Daraus folgt, dass der Mensch nicht nur egoistisch zweckrational handelt.

1,3

0,3

2c

Der Mensch ist sowohl Individuum als auch soziales Wesen: Das wurde mir erst durch den sozi­oökonomischen Zugang klar.

3,1

1,3

3a

Die Trennung zwischen Ökonomie und Ökonomik ist für die ökonomische Bildung von großer Bedeutung.

1,5

0,5

3b

Die Trennung zwischen Ökonomie und Ökonomik ist für die ökonomische Bildung von größter Bedeutung: Daraus folgt, dass die Vermischung dieser Ebenen zu falschen wirtschaftlichen Vorstellungen führen kann.

1,7

0,6

3c

Die Trennung zwischen Ökonomie und Ökonomik ist für die ökonomische Bildung von größter Bedeutung. Das wurde mir erst durch den sozioökonomischen Zugang klar.

1,8

1,0

4a

Egoistische Zweckrationalität, wie sie im Mittelpunkt der Mainstream Economics steht, soll kritisch reflektiert werden.

1,5

0,3

4b

Egoistische Zweckrationalität, wie sie im Mittelpunkt der Mainstream Economics steht, soll kritisch reflektiert werden.  Daraus folgt, dass im wirtschaftlichen Unterricht auch andere wirtschaftliche Theorien vermittelt werden sollen.

1,4

0,4

4c

Egoistische Zweckrationalität, wie sie im Mittelpunkt der Mainstream Economics steht, soll kritisch reflektiert werden: Das wurde mir erst durch den sozioökonomischen Zugang klar.

2,4

1,2

Das Paradigma der Einbettung (siehe Nr. 1a) erhielt eine hohe Zustimmung (1,3) bei einer geringen Standardabweichung (0,6). Ebenso hoch wurde der sich daraus ergebenden Konsequenz zugestimmt, dass damit das Soziale und Ethische für das Wirtschaften bedeutend sind. Die Standardabweichung ist etwas geringer (0,4). Den Studierenden wurde diese Sichtweise nicht erst durch die sozioökonomische Bildung klar, denn mit einem Mittelwert von 2,7 fällt bei einer relativ hohen Standardabweichung (1,2) die Bewertung der Aussage 1c nur sehr leicht zustimmend bzw. eher neutral aus.

Sehr hoch bei einer extrem niedrigen Standardabweichung (0,1) wird der Aussage, dass der Mensch ein individuelles und soziales Wesen sei (Nr. 2a), zugestimmt (1,1). Die Konsequenz, dass der Mensch deshalb nicht nur egoistisch zweckrational handle, wird ebenso sehr hoch bewertet (1,3). Diese Einstellung vertraten die Studierenden bereits vor der Lehrveranstaltung, denn Aussage 2c wird neutral beantwortet, wobei die Antworten stark streuen (STA 1,3).

Mit 1,5 ist auch die Zustimmung für die Trennung von Ökonomie und Ökonomik sehr hoch (Nr. 3a). Die Konsequenz, dass durch die Vermischung der beiden Dimensionen Missver­ständnisse entstehen können, wird ebenso recht hoch bewertet (1,7).  Bemerkenswert ist, dass dieses Paradigma für die Studierenden neu ist, wie die Antwort auf die Frage 3c mit dem höchsten Wert auf die c-Fragen in Tabelle 3 zeigt (1,8). Das bedeutet auch, dass bei den betroffenen Studierenden in den Lehrveranstaltungen des Bachelorstudiums zu wenig auf die Modellierung und die Trennung zwischen Ökonomie und Ökonomik hingewiesen wurde. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, denn gerade diese Nichttrennung führt zu missverständlichen Interpretationen.

Schließlich erfährt auch das vierte Paradigma (Nr. 4a) eine hohe Zustimmung (1,5). In den Lehrveranstaltungen sollte daher nicht nur die Neoklassik, sondern es sollten auch andere Theorien angeboten werden (1,4). Diese Erkenntnis war den Studierenden nicht ganz neu, wie die Antwort auf Frage 4c mit einem Mittelwert von 2,7 zeigt. Sie scheint an den Universitäten jedoch nicht ausreichend umgesetzt.

Die Studierenden stimmen also den Paradigmen und ihren Konsequenzen zu. Sozioökonomisches Denken ist ihnen daher weder fremd noch lehnen sie es ab. Neu ist für sie die Trennung von Ökonomie und Ökonomik, welche ihnen erst durch die Lehrveranstaltung klargeworden ist.

4.3 Evaluierung der Lehrveranstaltung

In der Evaluierung in der letzten Einheit wurde zuerst gefragt, was die Studierenden Neues gelernt haben. Drei Arten von Argumenten wurden am häufigsten genannt: Die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Theorien und Modellen (44% der Codings), die Einbindung von Ethik, Politik und Ökologie in die wirtschaftlichen Inhalte (14,3%) und die Darstellung der Dimensionen und Zusammenhänge (10,7%). Alle anderen Kategorien lagen unter 5%.

Eine studierende Person schrieb: „Ich habe gelernt, ökonomische Modelle und deren Annahmen kritisch zu hinterfragen und nicht einfach alles als gegeben anzunehmen. So habe ich bspw. das Gleichgewichtsmodell (Angebot-Nachfrage-Modell) erstmals kritisch betrachtet, was es viel interessanter macht. Zudem wurde mir als angehender Lehrer/Lehrerin Mut gemacht, dass man mit Lernenden durchaus in Diskussion treten kann.“ (Coding 12) Eine andere Person formulierte: „Mich hat überrascht, dass andere Wirtschaftsmodelle als die Neoklassik, als gleichwertige Theorien der Wirtschaftswissenschaften (VWL) angeführt werden, da ich im Bachelorstudium nur den neoklassischen Ansatz gelernt habe.“ (Coding 33)

Als besonders interessant wurden der reflexiv-kritische Zugang (35,5%), die Didaktik (16,1%) und die Einbindung von Ethik und Philosophie (14,5) genannt. Alle anderen Kategorien lagen unter 10%.

Als das Interessanteste führte eine Person aus: „Die kritische Betrachtung von Modellen, die einem bis dato immer als ‚das Richtige‘ dargestellt wurden. Zu erkennen, wie viel Macht in einer Volkswirtschaft steckt und wie diese verteilt ist, v.a. im Hinblick auf politische Entscheidungen.“ Eine weitere Person meinte, „dass in der Uni offensichtlich nur begrenzte Blickwinkel auf das Fach geboten werden“ (Coding 18).

Die Frage, ob die Lehrveranstaltung das wirtschaftspädagogische Handeln der Studierende verändern könnte, beantworteten 91% mit „ja“ und 9% mit einer neutralen Antwort. Niemand beantwortete diese Frage mit „nein“.

Die Fragen aus dem ersten Fragebogen (Tabelle 3) wurden am Ende nochmals gestellt, um mögliche Veränderungen zu erkennen. Tabelle 3 zeigt jene Aussagen, welche eine Änderung des Mittelwerts von mind. +/- 0,7 erreichten.

Tabelle 4:     Veränderungen in den Aussagen

Aussagen bewertet von

1 (trifft völlig zu) bis 6 (trifft gar nicht zu)

Ort

MW vorher

STA vorher

MW nachher

STA
nachher

Abw. MW

Bei allen wirtschaftlichen Handlungen geht es letztlich um die Nutzenmaximierung.

Graz

2,2

1,1

 4,2

1,4 

2

In der VWL sollten auch Fragen der Ethik und Moral behandelt werden.

Graz

2,3

1,0

1,2 

 0,4

-1,1

Verantwortliches Wirtschaften bedeutet, den Gewinn zu maximieren.

Graz

3,6

1,2

4,5 

1.4 

0,9

In der realen Wirtschaftswelt ist Gewinnmaximierung das wesentliche Ziele

Graz

2,1

1,0

2,9 

1,7 

0,8

In betriebswirtschaftlichen Lehrveranstaltungen sollte Ethik und Moral ein Bestandteil sein.

Graz

2,1

1,3

 1,4

 0,6

-0,7

In wirtschaftlichen Angelegenheiten geht es mir persön­lich immer nur um den eigenen Vorteil

Graz

4,0

1,2

 4,7

1,1 

0,7

Bei allen wirtschaftlichen Handlungen geht es letztlich um die Nutzenmaximierung.

Pader-
born

3,4

1,5

4,3

1,4

0,9

In der realen Wirtschaftswelt ist Gewinnmaximierung das wesentliche Ziele

Pader-
born

2,0

1,0

2,7

1,8

0,7

Verantwortliches Wirtschaften bedeutet, den Gewinn zu maximieren.

Pader-
born

3,9

1,1

4,6

1,1

0,7

Frappierend ist die Änderung in Graz (+2) bei der Aussage zur Nutzenmaximierung, aber auch die Einbindung von Ethik und Moral in die VWL erfährt eine hohe Veränderung (-1,1). Insgesamt fällt auf, dass der Einfluss der Lehre auf die Bilder und Haltungen der Studierende beachtlich ist. Das bedeutet wohl auch im Umkehrschluss, dass Lehrveranstaltungen, welche dem neoklassischen Paradigma folgen, Wirkungen in die andere Richtung erzielen. Es ist also wesentlich, welchem Paradigma gefolgt wird. In dieser Lehrveranstaltung haben sich die Aussagen in Richtung einer kritischeren und sozioökonomischen Richtung verändert – vor allem Aussagen im Kontext der Gewinn- und Nutzenmaximierung sind davon betroffen. Offen bleibt allerdings, ob die starken Veränderungen in Graz auf den dialektischen Zugang oder auf das Vorwissen – Graz hatte ja im Mittel stärker der Nutzenmaximierung zugestimmt – zurückzuführen ist.

Einige Wochen nach der Lehrveranstaltung wurden online u.a. zwei offene Fragen gestellt und gemeinsam ausgewertet: 1) Wenn Sie auf die Lehrveranstaltung zurückblicken, welches Ereignis, welche Geschichte oder welche Erkenntnis war für Sie am bedeutsamsten? 2) Wenn Sie jetzt auf die Lehrveranstaltung zurückblicken: Was wird für Sie bleiben? In Kategorien zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild:

Tabelle 5:     Das Neue und Bleibende

Nr.

Code

Codings

% der Codings

1

Kritisch-reflexive Diskussion der Ökonomik

26

45%

1a

… davon kritisches Hinterfragen der Rezeption Adam Smiths

davon 7

12% von 58

2

Trennung von Ökonomie und Ökonomik

10

17%

3

Bildung diskutieren

6

10%

4

Ethik einbinden

5

9%

5

Unterschiedliche Perspektiven einnehmen

3

5%

6

Arbeiten mit Filmen und didaktisches Vorgehen

3

5%

7

Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten

2

3%

8

Verhaltensökonomik und Experimente

2

3%

9

Geschichte des ökonomischen Denkens

1

2%

10

Summe

58

100%

Am häufigsten wurden Aussagen getätigt, welche sich mit der kritisch-reflexiven Diskussion der Ökonomik auseinandersetzten (45% aller Codings) und damit letztlich den Kern der sozi­oökonomischen Bildung treffen. Die Studierenden haben die Chance, sich über das Lehrbuch hinaus mit den Inhalten und Methoden des ökonomischen Denkens auseinanderzusetzen: „Für mich war am bedeutsamsten, dass man alles kritisch hinterfragen soll und nicht immer alles gleich so hinnehmen soll wie es in den Lehrbüchern steht.“ (Coding 42) Eine andere Person beschrieb ihre Erfahrung so: „Besonders bedeutsam und prägend war die Erfahrung, dass – anders als es an unserer Universität [Name der Universität] üblich ist – es auch noch Professoren gibt, die die neoliberalen Wirtschaftsmodelle kritisch hinterfragen und Studierende nicht nur automatisiert zum Lösen mathematischer Formeln, sondern zum kritischen Denken anregen. Eine sehr inspirierende Lehrveranstaltung!“ (Coding 49) Nicht nur in dieser, sondern auch in anderen Äußerungen dokumentiert sich die Vorherrschaft des neoklassischen und quantitativen Denkens, sodass eine sozioökonomische Betrachtung tatsächlich neue Perspektiven eröffnen kann. Bemerkenswert ist, dass sich von den 26 Codings 7 auf die kritische Auseinandersetzung mit der Rezeption Adam Smiths beziehen, wie sie im Unterkapitel 2.2.6 dargelegt wurde. Diese Sicht auf sein Werk schuf für einige Studierende neue Einsichten.

Aussagen, die sich auf die Trennung von Ökonomie und Ökonomik bezogen, wurden in der Kategorie 2 zusammengefasst. Diese Kategorie ist quantitativ mit 17% der gesamten Codings die zweitbedeutendste. Es scheint, dass in den Lehrveranstaltungen, welche die Studierenden zuvor besuchten, die Vorgangsweise der Modellierung und die Festlegung der Prämissen zu kurz gekommen sind: „Die Modelle, wie wir sie bis jetzt im VWL Unterricht gelehrt bekommen haben, sind als Modelle zu verstehen und nicht als Abbildung der Realität. Die Realität kann niemals in einem zweidimensionalen Modell dargestellt werden. Und dass der Markt an sich keine unkontrollierbare Erscheinung ist – der Markt wurde von Menschen geschaffen und besteht aus Menschen.“ (Coding 37) In den Lehrveranstaltung dürfte die Annahme, dass Wirtschaft ein System ist, das von Menschen geschaffen wurde und daher keine naturgesetzliche Gegebenheit darstellt, zu kurz kommen.

Die weiteren Kategorien manifestieren unterschiedliche Dimensionen des sozioökonomischen Denkens. Ihre Codings bringen zum Ausdruck, dass sich neue Sichtweisen ethischer, pädagogischer und institutioneller Natur auftun. Bemerkenswert ist, dass die Ausführungen zur Geschichte des ökonomischen Denkens und der historischen Interdependenz von Ökonomie und Ökonomik kaum Spuren hinterlassen haben. Insgesamt kommt jedoch deutlich zum Ausdruck, dass mit dem sozioökonomischen Denken im Sinne einer reflexiven Wirtschaftspädagogik tatsächlich ein neues Paradigma ersichtlich wird.

5 Fazit

Ein sozioökonomisches Paradigma eröffnet einen weiten Blick auf Wirtschaft und Wirtschaften und nimmt soziale, ethische und politische Dimension mit hinein in die wirtschaftliche Betrachtung, um einen pädagogischen Anspruch im Sinne eines traditionellen Bildungsbegriffs zu ermöglichen. Das Rad der sozioökonomischen Bildung kann zur eigenen Reflexion dienen, aber auch als basales fachdidaktisches Instrument. Als solches diente es als Grundlage für die Erarbeitung einer Lehrveranstaltung zur sozioökonomischen Bildung. Ein solcher Zugang ist für Studierende phänomenologisch nichts Neues, allerdings als Zugang in der Ökonomik sehr wohl und kann dadurch zur Reflexion führen. Studierende hinterfragen in einem solchen Ansatz die modellhaften Annahmen wesentlich kritischer und lernen zwischen Ökonomie und Ökonomik zu trennen, ein Zugang, den sie davor nicht kannten.

Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass einerseits das Bild von Studierenden über Wirtschaft und Wirtschaften widersprüchlich, aber eher sozioökonomisch ausgeprägt ist. Andererseits wird offenkundig, dass die Gewinn- und Nutzenmaximierung bei den Studierenden der Wirtschaftswissenschaften als wesentliches Paradigma in der Lehre wahrgenommen wird. So widersprechen sich einerseits die eigenen Vorstellungen über Wirtschaft mit den Inhalten der Wirtschaftswissenschaften und andererseits sind die Bilder der Studierenden selbst widersprüchlich.

Es wird ersichtlich, dass der sozioökonomische Zugang Denkprozesse auslöst.  Sowohl der dialektische als auch der phänomenologische Zugang kann hilfreich und unterstützend für das kritisch-reflexive sozioökonomische Denken sein, wobei offenbleibt, ob der dialektische etwas stärkere Auswirkungen erzielen kann. Es geht aber nicht um einen methodischen, sondern um einen inhaltlichen Zugang. Oder anders gesagt: Sozioökonomische Bildung ist keine Sache der Methode, sondern ein Paradigma, das unterschiedliche Zugehensweisen und das kritisch-reflexive Denken über Ökonomie und Ökonomik eröffnen kann.

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[1] Hier ist ein biographischer Hinweis notwendig: Nach dem Abschluss des Studiums der Wirtschaftspädagogik und der Europäischen Studien sowie langjähriger Erfahrung in Politik und Verwaltung sowie im Bildungswesen habe ich relativ spät noch Religionswissenschaft studiert. Philosophie, Soziologie, Theologie und Religi­onswissenschaft sehen durchwegs kritischer auf Ökonomie und Ökonomik als die Wirtschaftswissenschaften selbst. Es stellte sich mir die Frage: Wenn wir in den Wissenschaften – und das gilt für jede Disziplin – dem Ideal der Wahrheit folgen, wer hat dann Recht? Sind die Annahmen der Ökonomik des Mainstreams nicht doch viel zu restriktiv und werden sie dem Menschen nicht gerecht? Ohne philosophische, soziologische, theologische und religionswissenschaftliche Sichtweisen hätte ich meine Habilitationsschrift über eine reflexive Wirtschaftspädagogik nicht schreiben können und hätte sich mein Blick auf Wirtschaft und Wirtschaften niemals so ausweiten können, wie er es heute tut.

[2] Es kann hier nicht auf die Problematik der Knappheit eingegangen werden. Hingewiesen wird aber darauf, dass wir individuell immer wieder Knappheit erfahren, weil sie in Relation zu unseren Bedürfnissen entsteht. Auch wer schon sehr Vieles hat, kann das Bedürfnis nach noch mehr haben, erfährt also Knappheit. Sie ist aber rela­tiv zu sehen, denn sie ist hier eine andere Knappheit als jene von Menschen, denen das Existentielle fehlt. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob es auf dieser Welt nicht an und für sich genug für alle gäbe, dies aber besser verteilt werden könnte oder sollte.

Zitieren des Beitrags

Tafner, G. (2018): Reflexive Wirtschaftspädagogik und sozioökonomische Didaktik. Basale Grundlagen und ein Unterrichtsdesign in Diskussion. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 1-26. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe35/tafner_bwpat35.pdf (13.12.2018).